Von innerer Emigration und einem nie gedrehten Film

innere Emigration

Neulich hat Robert De Niro beim Fillmfestival in Cannes betont, dass Künstler:innen Faschisten und Autokraten Angst einjagten und daher unverzichtbar und wichtig seien. Diese Kritik an der aktuellen Regierung der USA kam gut an, der Applaus war immens.
Was für eine Gratwanderung die künstlerische Arbeit in Diktaturen ist, zeigt die Graphic-Novel-Künstlerin Isabel Kreitz in ihrem neuesten Werk, Die letzte Einstellung.

Sie erzählt darin die Geschichte von Autor Heinz Hoffmann, der 1933 als Filmkritiker bei der Zeitung arbeitet, doch anstatt den neuesten Charlie-Chaplin-Film rezensieren zu dürfen, muss er Nazi-Propaganda sehen – »Propaganda mit Leiche«, wie er seiner Begleitung, seiner Sekretärin Erika, erklärt. Während seine intellektuellen Freunde offen darüber nachdenken, ins Ausland zu gehen, will Hoffmann in Deutschland bleiben, denn er ist kein Jude und möchte die Entwicklungen im Land beobachten und darüber schreiben. Er sieht es als berufliche Pflicht an.

Die Intelligenzia geht in die Emigration

Zudem arbeitet er als Drehbuch-Autor für die UFA und soll eine winterliche Komödie schreiben. So etwas gibt man nicht so schnell auf. Zusammen mit Erika fährt er in die Berge für die Vorort-Recherche und das konzentrierte Arbeiten. Nur dass die Konzentration den zwischenmenschlichen Entwicklungen zum Opfer fällt – und der Reichstagsbrand in Berlin die Gäste schließlich völlig aufgeschreckt nach Hause holt. Danach geht es bergab. Die wichtigsten Autoren emigrieren, die Nazis verbrennen ihre Bücher, darunter auch die von Heinz Hoffmann. Aber er bleibt immer noch im Land.

Zehn Jahre später

Derweil lässt Erika eine Abtreibung vornehmen, wovon ihre Wirtin jedoch Wind bekommt und sie aus der Wohnung wirft. Heinz allerdings ist nicht für sie da, denn er ist mit einer anderen Frau zusammen. Kurz zieht Erika wieder zu ihren Eltern, doch sie schafft es, Produktionsassistentin in den Filmstudios Babelsberg zu werden. Zehn Jahre später ist das Filmemachen allerdings nicht mehr so einfach. Berlin ist von Bombenangriffen zerstört, Aufnahmen in den Studios werden vom Fliegeralarm immer wieder unterbrochen. Und plötzlich steht Hoffmann vor Erikas Tür. Seine Wohnung wurde ausgebombt, er braucht eine Unterkunft.

Umgekehrte Vorzeichen

Hatte anfangs Hoffmann Erika protegiert, so ist nun sie es, die ihm hilft, mit einer Schlafstatt. Jetzt nimmt sie ihn mit zu Kinopremieren und die alte Liebe lebt wieder auf. Hoffmann hat Arbeitsverbot, seine Bücher sind verboten, er hat sich in die innere Emigration zurückgezogen, lebt von seinen Ersparnissen, schreibt für die Schublade. Bis die Filmleute in Babelsberg ein ordentliches Drehbuch brauchen, und Erika einen Autor vorschlägt, der jedoch nicht genannt werden darf …

Erich Kästner als Vorbild

Wem jetzt schon all diese Geschehnisse bekannt vorkommen, ist auf der richtigen Spur. Kreitz hat sich frei am Leben von Erich Kästner bedient und Heinz Hoffmann auch ganz offensichtlich dessen Aussehen verpasst. Die Anspielungen und Referenzen sind vielfältig, von der Bücherverbrennung bis zu »Drei Männer im Schnee« oder »Die Feuerzangenbowle«, von den Werken von Veit Harlan zu den Schauspielern Heinz Rühmann und Gustav Knuth. Bis auf Kästner werden die anderen Künstler:innen mit Klarnamen erwähnt und machen deutlich, dass hier auch die wahre Geschichte um den letzten Propagandafilm der Nazis erzählt wird. Manche Szenen der sepiafarbenen Kohle-Bleistiftzeichnungen erinnern an »Babylon Berlin« und damit an die fiktive Ebene um Heinz und Erika.

Ein gezeichneter Film

In einem Anhang erklärt Kreitz die wahren Gegebenheit, um eben diesen letzten Propagandafilm, der jedoch nie gedreht werden sollte, und führt die realen Personen in der Geschichte noch mal gesondert auf. Ihr gelingt es, ein Stück Filmgeschichte ins allgemeine Bewusstsein zu holen und daraus quasi einen komplexen gezeichneten Film zu schaffen, der aufs Allerbeste fesselt. So wird neben geschichtlichem Wissen auch gezeigt, dass künstlerisches Schaffen in diktatorischen und kriegerischen Zeiten alles andere als eine Selbstverständlichkeit und natürlich mitnichten einfach ist – selbst in der inneren Emigration, die von manchen in vergangenen Zeiten vielleicht als feige und nicht als »richtige« Emigration angesehen wurde.
So wird diese Graphic Novel zu einem beredeten bzw. bebilderten Beispiel für das, was wir verlieren würden, wenn die Rechten weiter an Einfluss gewinnen würden. Auch dies eine Aufforderung an uns alle, es nicht wieder zu solchen Verhältnissen kommen zu lassen.

Isabel Kreitz: Die letzte Einstellung, Reprodukt, 2025, 304 Seiten, 29 Euro

Wehrt euch!

fülscherEin Kompliment. Ein charmantes Lächeln.Eine leichte Berührung. Als Mädchen und Frau hat man so etwas ja manchmal ganz gern. Es tut der Seele gut und schmeichelt. Doch ganz rasch ist eine Grenze überschritten, wo genau dies nicht mehr nett ist, sondern zu einer sexuellen Belästigung wird. Um diesen schmalen Grat geht es in Susanne Fülschers neuem Roman #fingerweg.

Die 18-jährige Lisa hat gerade ihr Abi gemacht und will eigentlich mit der besten Freundin ein paar Monate durch die Welt reisen, als sie die Zusage zu einem Praktikum bekommt. Und das ist nicht irgendein Praktikum, sondern das in ihrem Traumjob, beim Film, beim momentan angesagtesten Regisseur des Landes. Keine Frage, dass Lisa zusagt und der Freundin einen Korb gibt. Wer würde das nicht?
Mit Feuereifer stürzt sie sich in die Arbeit, die sie zunächst völlig unterfordert. Doch der Chef Maxime, ein George-Clooney-Beau mit graumelierten Haaren und entwaffnendem Jungenlächeln, lädt Lisa zum Essen ein, zum Frühstück, nimmt sie auf Filmpremieren und zu Interview-Terminen mit. Lauter Dinge, für die Lisa brennt und mit denen sich sie beruflich beschäftigen möchte. Eigentlich könnte es nicht besser laufen.

Doch in das Hochgefühl über diesen Traumjob mischt sich mit der Zeit immer mehr mulmigen Bedenken. Denn Maxime berührt Lisa immer wieder, fast wie zufällig. Morgens steht er auch schon mal halbnackt vor ihr, wenn er wieder im Büro geschlafen hat, weil es mit seiner Frau nicht gut läuft, und immer öfter lässt er anzügliche Bemerkungen fallen.
Lisa mag das alles gar nicht, doch für ihren Traumjob ist sie bereit einiges zu ertragen und sich nicht als Mimose anzustellen. Manches Mal befürchtet sie sogar, dass sie sich vielleicht falsch verhalten hat und Maxime quasi zu diesen Anzüglichkeiten aufgefordert hat. Sie ist hin- und hergerissen: Angezogen von der glitzernden Filmwelt und gleichzeitig abgestoßen von den immer drastischeren Annäherungsversuchen ihres Chefs.

Ihren Eltern will sie sich nicht anvertrauen, ihre beste Freundin tourt durch Kanada und ist nur per Skype zu erreichen. Maxime wird immer zudringlicher und legt eines Tages sogar pornografische Fotos von sich in der Teeküche aus. Lisa fühlt sich immer elender. Doch erst als er versucht, Lisa ins Bett zu bekommen, kündigt sie und lässt Maxime schließlich in aller Öffentlichkeit hochgehen …

In angenehm lockeren Ton schreibt Susanne Fülscher von einem sehr unsäglichen Problem unserer Gesellschaft. Sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz gilt immer noch als Kavaliersdelikt, wird zumeist verschwiegen, wenn nicht gerade ein #aufschrei durch die sozialen Medien gepeitscht wird. Sobald die mediale Welle abebbt, wird wieder geschwiegen. Doch genau das darf nicht sein. Und das zeigt Fülscher auf sehr rasante und spannende Art. Dabei geht sie nicht in die reißerische Falle, einen Vergewaltigungsfall zu inszenieren, sondern zeigt die kleinen alltäglichen Gesten und Berührungen, lässt die scheinbar so charmant-harmlosen Sätze fallen, denen man ja keine böse Absicht unterstellen mag, in denen jedoch der Anfang von allem Unglück steckt. Genau damit zeigt sie jungen Mädchen auf, wie schmal der Grat zwischen ehrlicher Freundlichkeit und sexueller Belästigung ist, bei der das Machtgefälle zwischen Chef und Praktikantin schamlos ausgenutzt wird.

Fülscher bringt die Leserinnen zum Grübeln und sensibilisiert sie, wie weit man für seinen Traumjob gehen, was man erdulden und wo man die Grenze ziehen würde. Sie zeigt Lisas Zweifel, ihre Wünsche, es in im Job zu schaffen, und ihre Gewissensbisse, womöglich selbst schuld an Maximes Belästigungen zu sein. Lisas Freunde jedoch machen ihr eindeutig klar, dass sie mitnichten schuld ist, und zeigen ihr, wie wahre Zuneigung aussieht.
So bekommen die Leserinnen ein hilfreiches Gespür dafür vermittelt, was in Arbeitsverhältnissen, aber auch bei Freundschaften okay und was ein definitives No-go ist. Es bleibt zu hoffen, dass sich nach der Lektüre dieses wichtigen Buches mehr Mädchen und junge Frauen gegen sexuelle Belästigungen zur Wehr setzen und nicht alles wort- und tatenlos hinnehmen.

Ein Hinweis noch: Der Verlag empfiehlt das Buch für Leserinnen ab 12. Ich würde es jedoch eher ab 14 oder 15 empfehlen, denn die Szenen mit den pornografischen Fotos sind schon ziemlich explizit und nicht unbedingt für alle geeignet.

Susanne Fülscher: #fingerweg, Carlsen, 2016, 208 Seiten, ab 14, 6,99 Euro

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