Es ist immer noch Grimm-Jahr, und eigentlich wollte ich die Märchen der Gebrüder nachgelesen haben. Aber selbst mein Vorhaben, jeden Tag nur ein Märchen zu lesen, konnte ich bis jetzt nicht umsetzen. Zu viele schöne aktuelle Geschichten haben mich abgehalten. Doch an einem konnte ich nicht vorbeigehen: Aschenbrödel. Besser gesagt an der Nacherzählung des tschechisch-ostdeutschen Märchenfilms Drei Haselnüsse für Aschenbrödel.
Mit dem Film aus dem Jahr 1973 bin ich quasi groß geworden. Jährlich zu Weihnachten war das eine feste Verabredung vor dem Fernseher. Den Text kann ich quasi mitsprechen, die Musik mitsummen. Keiner der anderen osteuropäischen Märchenfilme der damaligen Zeit löst bei mir so ein heimeliges Gefühl aus, keiner hat mich je so in den Bann gezogen. Mag sein, dass das an der Ausstattung (vor allem den Roben von Aschenbrödel) lag, vielleicht auch an der eingängigen Musik, sicher aber habe ich Aschenbrödel bewundert: Die herzensgute, gerechtigkeitsliebende Heldin, aber auch die freche Göre, die sich einfach so auf Pferd und Bäume schwingt und vorlauten Jungs Paroli bietet und schließlich auf Augenhöhe mit ihrem Prinzen durch die Winterlandschaft ins Glück reitet. Allerdings nicht, ohne ihn vorher auf die Probe zu stellen. Diese Interpretation der Märchenfigur reizte mich, wurde zu einem lange unausgesprochenen Vorbild. Und auch heute, fast vierzig Jahre später kann ich mich an diesem Film immer noch nicht satt sehen.
Die schriftliche Nacherzählung dieses Films nun hat mich nicht nur aus diesen Gründen gereizt. Ich war neugierig, ob dieses Experiment gelingt und ob ich mein Gefühl für diesen Film auch in dem Buch wiederfinden würde. Und es ist gelungen. Ganz entzückend sogar. Maike Stein erzählt in schlichten, präzisen Sätzen Aschenbrödels Erlebnisse nach. Sie wählt dafür eine manchmal etwas antiquierte Sprache, die in diesem Kontext jedoch perfekt passt, ohne sonderbar zu wirken. Die Szenen des Films tauchten sofort vor meinem inneren Auge auf, die Original-Dialoge aus dem Drehbuch klangen vollkommen vertraut.
Jetzt könnte man meinen: Okay, alles ganz dicht und treu am Film – wozu das Ganze? Doch damit entgeht einem etwas ganz Entscheidendes. Maike Stein schafft es nämlich, die Geschichte um Dimensionen zu bereichern, die der Film nicht liefern kann: Einfühlsam und wohldosiert schildert sie die Gedanken der Protagonisten, ihre Wünsche und Zweifel. Aschenbrödel, die sich um die liegengebliebene Arbeit sorgt, der Prinz, der vor Wonne „Wolken im Kopf“ hat und kein Wort mehr herausbekommt, während er mit der schönen Unbekannten tanzt. Zudem dufte sie auch noch nach Wald. Und Aschenbrödel spürt die Wärme der royalen Haut … Diese synästhetischen Einschübe, die Gerüche, Temperaturen oder Materialien schildern, bereichern den inneren Film des Lesers ganz ungemein. So wird diese Nacherzählung zu einem schönen Beispiel, was gut geschriebene Texte können, und wozu das Medium Film immer noch nicht in der Lage ist. Umgekehrt gilt das natürlich auch, denn der Soundtrack, der sich im Laufe der Lektüre zwar in meinem Hirn ganz automatisch einstellte, weil ich den Film eben in- und auswendig kenne, fehlt selbstverständlich. Von den Bildern natürlich ganz zu schweigen.
Zum Glück gibt es im Innenteil des Buches einen – wenn auch viel zu kurzen – Bildteil mit Fotos aus dem Film. Ein schönes Wiedersehen, nur leider ohne die Ballszene, wo Aschenbrödel dem Prinzen das Rätsel aufgibt. Irgendwie ist die für mich eine Schlüsselszene – ohne dass ich das wirklich begründen könnte. Wahrscheinlich bin ich auch hier wieder nur ungemein in ihr zartrosa Kleid verliebt …
Für die große Fangemeinde des Films ist dieses Buch im Grunde ein Muss. Es lässt sich hervorragend vorlesen, und so kann die Faszination dieser Aschenputtel-Version von Fan-Müttern an die kommenden Liebhaberinnen auch beim gemeinsamen Lesen weitergeben werden. Für junge Leserinnen, die den Film noch nicht kennen, ist das Buch ein leicht zu lesendes Märchen, das zum Träumen, Reiten, Klettern und selbstbewusst Sein animiert – doch welches Mädchen kennt diesen Film nicht???
Maike Stein: Drei Haselnüsse für Aschenbrödel, nach dem Märchenfilm von Václav Vorlicek und Frantisek Pavlicek, Ravensburger Buchverlag, 2012, 173 Seiten, ab 8, 12,99 Euro