Die Wut umarmen

Wut

Köstlich! Ich hätte nicht gedacht, dass Wut so gut schmeckt!«
»Hehe, die der anderen ist immer vorzüglich«, kichert sie hämisch.
Sie, das ist Ihre Hoheit Matsch, Prinzessin von Schlammland, titelgebende Figur in Beatrice Alemagnas fantastischem Bilderbuch. Eigentlich ist sie nicht hämisch. Von eher unansehnlicher, wenig prinzessinhafter Gestalt – eine unförmige tropfende Masse mit Haaren wie ein verdorrter Busch und Wurzeln als Händen und Füßen – ist sie doch ein empfindsames und liebenswertes Wesen.
So wie Yuki, obwohl die gleich zu Beginn sagt: »Ich habe einen schlechten Charakter. Ich bin fies und ungezogen. Wenn ich wütend bin, schreie ich, haue mit den Fäusten auf den Boden und weine. Alles in mir verknotet sich.«

Deshalb kann ihr Bruder Sen sie auch nicht ausstehen und redet nie mit ihr, wenn er sie von der Schule abholt. Eines Tages wirft Yuki auf dem Heimweg absichtlich die Hausschlüssel in einen Gully. Sofort packt sie das schlechte Gewissen und sie klettert in den offenen Gully, ganz tief hinab. Dort trifft sie die Prinzessin. Die heißt sie willkommen und bittet Yuki freundlich, ihr zu folgen. Kein Schluss-jetzt-Beruhig-dich-Geh-in-dein-Zimmer.

Durch den Ärgerwald zu den Müffelinos

Gemeinsam gehen sie vorbei an riesigen Bäumen, verschlungen, in warmem Braun und frischem Türkis, die ein bisschen an die Unterwasserwelt bei Swimmy erinnern. »Das ist der Ärgerwald«, erklärt die Prinzessin. »Wenn du schon mal gemeine Dinge getan hast, bist du hier sicher.«
Sie begegnen niedlichen, übelriechenden kleinen Kopffüßlern, den Müffellinos. »Sie lieben es, dir Schuldgefühle zu machen.« Das machen sie mit einer gewissen Penetranz. Aber auch sie sind ambivalente Wesen, wollen etwas Zuneigung und eigentlich nichts Böses. So kurz und knapp die Dialoge sind, so vielsagend sind sie. Nach einer stilechten Unterwasserkutschfahrt gelangen Yuki und die Prinzessin zur Wutothek, wo es viele Sorten Wut als Pulver, Gelee, Saft oder Sirup gibt. Im Museum der Zornobjekte, »alles Dinge, die die Leute wegwerfen, wenn sie wütend sind«, findet Yuki etwas sehr Verblüffendes.

Beschützend, verbindend, tröstlich

Und das ist nur eine der vielen wundersamen Überraschungen und genialen Einfälle in Beatrice Alemagnas hinreißender Geschichte über Wut in all ihren Facetten und Ausdrucksformen. Die Prinzessin von Schlammland ist einerseits so etwas wie die Hohepriesterin dieses emotionalen Reiches. Sie verkörpert aber auch die Wut eines jeden Individuums. Durch sie zeigt Alemagna, dass Wut nicht nur schlecht ist. Oder nur böse. So unansehnlich sie sein mag, ist sie doch auch beschützend, verbindend und tröstlich. Sie wächst, wenn man gemein zu ihr ist. Und schmilzt dahin, wenn man sie umarmt. Nicht zufällig zeigt das Titelbild Yuki und die Prinzessin in einer Szene, die an King Kong erinnert. Auch der unheimliche und riesige Gorilla war nie ein böses Monster. Henrieke Markert hat die tiefgehende Geschichte sehr schön und warmherzig übersetzt.

Fein und ausdrucksstark in Buntstift

Die Idee, die Tiefen des kindlichen Unterbewusstseins so traurig und schaurig schön zu zeigen, ist sehr charmant und originell. Virtuos gestaltet Alemagna diese Welt. Die Prinzessin und Müffelinos oder kutschenziehenden Kaninchen kommen eher amorph und rundlich in Erdfarben und als ineinanderfließende Wasserfarbenflecken daher. Nur lustige Kulleraugen sehen daraus hervor. Die Kinder Yuki und Sen sind dafür umso feiner und ausdrucksstärker mit farbigen Buntstiften gezeichnet und konturiert. Mimik und Bewegung sind berührend und lebensecht und zeugen von hoher Kunst der italienischen Illustratorin und Autorin. Ihre zutiefst menschliche und faszinierend gestaltete Geschichte hat das Zeug zum modernen Klassiker.

Beatrice Alemagna: Ihre Hoheit Matsch, Prinzessin von Schlammland, Übersetzung: Henrieke Markert, Rotopol, 2025, 56 Seiten, 24 Euro, ab 5

Echte Hingucker

„Wenn ich aufwache, ist das immer so – erst höre ich die Möwen, dann höre ich, wie ein Hund bellt, auf der Straße fährt ein Auto vorbei, jemand knallt hinter sich eine Tür zu und ruft lauf: „Guten Morgen!“ Eine Stadt am Meer, eine Kindheit am Meer.

Joanne Schwartz erzählt vom Leben im kanadischen Cape Breton. Bis in die 50er Jahre wurde hier unter dem Meer nach Kohle geschürft. Das Meer ist immer präsent, es glitzert und funkelt in der Sonne, mal ist es ganz ruhig, mal haben die Wellen weiße Kronen, es ist das erste, was der Junge nach dem Aufwachen sieht und das letzte, wenn seine Familie abends zusammen auf der Terrasse sitzt. „Die Luft riecht nach Salz. Ich kann es auf der Zunge schmecken.“

Ebenso wichtig ist das, was tief unter dem Meer passiert, dort, wo die Männer und Väter in den niedrigen Kohleflözen schuften. Während oben die Tage mit Schaukeln, Rumstromern, Einkaufen in hellem Licht unter weitem Himmel vergehen, verbringen die Bergleute sie in der Dunkelheit. In atemberaubend schönen, doppelseitigen Panoramabildern zeigt Sydney Smith die Stadt in lichten Farben, das weite, glitzernde Meer, die Menschen mit schwarzem Tuschestrich konturiert, zart koloriert und mit entspannten Mienen. Gelassenheit, Wärme, ruhige Lebensfreude strahlen diese Bilder aus. Dazwischen schneidet er immer wieder Seiten in dichtem Schwarz, auf denen nur ganz unten am Rand gebückt Männer mit Bohrer und Hacke den Stollen vorantreiben: „Und tief drunten unter dem Meer gräbt mein Vater nach Kohle.“

Der Großvater war ebenfalls Bergmann, der Junge besucht ihn auf dem Friedhof: „Wenn ich mal tot bin, will ich einen Blick aufs Meer haben! Ich habe lange genug unter Tage geschuftet.“ Das ist absurd und rührend und sagt sehr viel über die Menschen, deren Leben vom Meer und vom Bergbau bestimmt wird. Der Vater kommt müde und in schwarzen Staub gehüllt abends nach Hause, und der Junge weiß: „Eines Tages bin ich an der Reihe.“
Anfang des 20. Jahrhunderts noch mussten Jungen schon mit neun oder zehn Jahren einfahren und zwölf Stunden tief unter der Erde harte, gefährliche Arbeit leisten. Wahrscheinlich bleibt dem Jungen in der in den 50er Jahren spielenden Geschichte dieses Schicksal erspart. Aber für viele Millionen Kinder weltweit ist Kinderarbeit noch heute bittere Realität, ihre Kindheit endet abrupt in Minen, vor Brennöfen, in Steinbrüchen und Fabriken.

Auch das schwingt in Stadt am Meer mit, tut der Schönheit dieses bezaubernden Bilderbuchs aber keinen Abbruch. Gute Geschichten gründen tief und eine dunkle Seite schwingt immer mit.

Um einen besonderen Beruf, genauer: die Kündigung eines Jobs, geht’s auch in Monsta. Puscheliger Kopffüßler mit großem Maul, und riesigen Glubschaugen, das ist Harald, das Monster. Und es hat die Faxen dicke. Es wird nämlich gar nicht beachtet: Geduldig hat es gewartet, bis das von ihm auserwählte Kind alt genug war, um sich anständig gruseln zu können. Es hat trainiert, „Monsterblicke geübt (kann jetzt 47!), gegrimmt (laut), gegrummt, … einen Turm gebaut so hoch wie deine Wand, und ich bin gesprungen, einfach auf dich drauf.“

Und es passierte … Nichts! Das Kind ist „unreparierbar“, schläft jede Nacht tief und fest, grinst sogar manchmal im Traum und kommt auch in genau jenem absolut nicht auf die Idee, dass ein Monster in seinem Zimmer wohnt und nur für ihn speziell eine Supergruselshow abziehen will.

Dita Zipfel erzählt die klassische Geschichte vom Monster unterm Bett total neu und frisch. Bis dato wollen diverse Bücher Kindern die Angst nehmen, indem sie wahlweise die Existenz der Schauerlichen leugnen und logische Erklärungen für angenagte Bettpfosten und verschwundenes Spielzeug bieten. Oder die Unwesen aus der Dunkelheit ins Licht holen und dann ganz harmlos erscheinen lassen.
Dieses Bilderbuch jedoch ist aus der Perspektive des ungeahnten Mitbewohners gestaltet, als Brief. Darin schreibt sich Monsta den Frust von der Seele, überhaupt nicht beachtet zu werden. Von soviel Respektlosigkeit muss sich der fleißige Nachtarbeiter nun erholen, danach will er in der Geisterbahn anheuern, „da werden welche wie ich noch gebraucht“.
Mateo Dineen malt dazu leicht disneyeske, trotzdem ungeheuer liebenswerte Bilder. Auch auf die Gefahr hin, dass das jetzt doch das eine oder andere Kind um den Schlaf bringt, die Idee ist einfach monstermäßig famos: Schöner gruseln, man weiß nie, was man verpasst. Und ein bisschen Anerkennung für hart schuftende Grusler.

Etwas verpasst hätte auch fast das Kind in Beatrice Alemagnas Ein großer Tag, an dem fast nichts passierte. Es fängt allerdings nicht besonders vielversprechend an: „Da waren wir wieder, im selben Ferienhäuschen, im selben Wald, mit demselben Regen“, Mutter sitzt jeden Tag vorm Rechner und schreibt, Vater ist nicht mitgekommen, was bleibt dem Kind anderes übrig, als nichts zu tun, „nichts, außer Marsmännchen töten“ in der virtuellen Welt.
Als Mama ihm „dieses Ding“, unschwer als typische, tragbare Spielkonsole, früher Gameboy, erkennbar, wegnehmen will, schlüpft das bebrillte Kind in seine warnwestenorange Jacke und geht raus. Es kommt wie es kommen muss, nach kurzer Zeit fällt das elektronische Spielzeug ins Wasser – und nach kurzem Frust beginnt das Kind die Umgebung zu erkunden.

Das ist jetzt ein bisschen klischeehaft, weil ein Kind durchaus daddeln und ebenso viel und gern draußen spielen kann. Die Verteufelung elektronischer Spielgeräte finde ich unzeitgemäß und albern, dazu demnächst mehr. Und bei Regen, ohne Freunde kostet es schon einige Überwindung hinauszugehen.

Diese etwas gewollte Ausgangssituation wird aber wett gemacht von den wirklich entzückenden und berauschenden Bildern vom Wald, von Steinen und Tümpeln, Baumkronen und Büschen, Sonnenstrahlen, die durch die Wolken fallen, winzigen Lebewesen, unterirdischen Schätzen und sonderbaren Dingen im Boden.

Man spürt förmlich die Feuchtigkeit, riecht das nasse Laub, das rutschige Moos und die Pilze, hört das gurgelnde Wasser und fühlt die glitschigen Schnecken, die glatten Steine, die Regentropfen auf der Zunge. In reizvollem Kontrast zu den warmen, erdigen und grünblauen Tönen der Aquarellbilder mit teils radierungsartigen Strukturen steht die knallfarbene Regenjacke, in der das Kind durch die wirkliche Welt springt. Es ist ein „magischer, unglaublicher Tag voller Nichts“. Wie in Mark Janssens Nichts passiert entzündet auch dieses Bilderbuch ein optisches Feuerwerk, visuell passiert hier unglaublich viel.
Das sind Bilderbücher im besten Sinne.

Joanne Schwartz: Stadt am Meer, Übersetzung: Bernadette Ott, Illustrationen: Sydney Smith, Aladin 2018, 52 Seiten, ab 5, 18 Euro

Dita Zipfel: Monsta, Illustrationen: Mateo Dineen, Tulipan 2018, 48 Seiten, ab 4, 15 Euro

Beatrice Alemagna: Ein großer Tag, an dem fast nichts passierte, Übersetzung: Anja Kootz, Beltz & Gelberg 2018, 46 Seiten, ab 5, 14,95 Euro