Findet die Unterschiede

Heute wird Eric Carle 90 Jahre alt. Eric Carle ist der »Vater« der Raupe Nimmersatt – die bereits im Frühjahr ihr 50. Jubiläum hatte und überall ausgiebig gefeiert wurde. Ich dachte, ich gratuliere Eric Carle heute zu beiden: Happy, happy birthday, dear Eric Carle, and thanks for the lovely caterpillar that enriched and enchanted my own childhood!

Happy Birthday, Eric Carle!

Zu diesem Anlass habe ich auch meine alte Ausgabe der hungrigen Raupe von 1969 wieder aus dem Regal gezogen und dabei eine interessante? merkwürdige? typische? ungewöhnliche? Feststellung machen müssen. Denn mittlerweile gibt es in meinem Haushalt auch ein neues Exemplar. Jacke wie Hose, dachte ich, fing aber trotzdem an zu blättern. Und staunte.

Die beiden Ausgaben sind nicht nur unterschiedlich groß – das eine durchaus gängige Veränderung bei Neuauflagen – und haben unterschiedliche Hintergrundfarben auf dem Cover samt anderer Schrifttype, auch drinnen finden sich diverse Unterschiede. Seht selbst und schaut mal genau hin.
Oben liegt immer die aktuelle Ausgabe aus dem Gerstenberg Verlag, darunter meine alte Lizenzausgabe aus dem Gerhard Stalling Verlag in Oldenburg für die Europäische Bildungsgemeinschaft.

Wie viele Unterschiede sind auf den Bildern?

Was ist da passiert?, fragt man sich ganz automatisch. Hat Carle vielleicht mehrere Versionen seiner Bilder hergestellt? Hat er die alten Bilder vielleicht »neu bearbeitet«, so wie wir Übersetzerinnen das manchmal mit alten Texten machen dürfen? Musste die Sonne hier neu gemacht werden, weil ihr Blick in der alten Ausgabe leicht fies wirkt?

Auf jeder Seite finden sich Unterschiede, die selbst auf diesen eher schlichten Fotos gut zu erkennen sind. Und es sind nicht nur Unterschiede, die durch das dünne, glattere, weißere Papier der neuen Ausgabe und den angegilbten Seiten der alten zu erklären sind. Wieso zeigt das Blatt der Pflaume auf einmal nach links? Wieso sind die Sonnenstrahlen anders?

Wurst- und Gurkenzipfel differieren, der Muffin hat unten abgespeckt, das Früchtebrot ist verrutscht … Sind im Verlaufe von 50 Jahren Verlags- und Buchgeschichte Druckdaten verloren gegangen? Musste alles noch mal gemacht werden? Gibt es jemanden, der diese Fragen, diese Unterschiede erklären kann? War meine Lizenzausgabe gar nicht die echte? Welche Raupe ist denn nun das Original? Weiß jemand etwas genaueres darüber?

Aber ganz gleich, warum das so ist. Ich liebe die kleine hungrige Raupe immer noch und werde meine alte Ausgabe nun noch mehr hüten wie einen ganz besonderen Schatz (ich sollte den zerrissenen Buchrücken mal reparieren lassen, zur Feier des Tages).

Lebensfragen

Vielleicht passen aber diese Mysterien um Carles berühmtestes Buch auch genau zu seinem langen Leben, über das ihr an anderen Stellen ausführliche Infos findet (von dem talentierten Werber, der zum Kinderbuchautor wurde etc.) – und in dessen Biografie sich für mich doch Fragen auftun: Wieso kehrten Carles Eltern mit den Kindern 1935 aus den USA nach Nazi-Deutschland zurück? Wikipedia spricht da nur von »Heimweh«, Deutschlandfunk schrieb vor zehn Jahren sie kamen »voller Hoffnung auf Hitlers Versprechen nach wirtschaftlichem Aufschwung«, Carle selbst nennt die Zeit, die er in Deutschland verbrachte »düster«. Man kann nur ahnen, was es alles bei einem Sechsjährigen auslöste, die Heimat zu verlassen und in ein Land zurückzukehren, dass zwar das der Eltern, aber doch irgendwie nicht seins war – und dann die geistige Enge, die HJ und den Krieg ganz nah miterleben zu müssen, wenn man eigentlich schon in Freiheit und Sicherheit lebte. Aber auch hier ist es wieder ganz gleich, ob sich die Hoffnungen seiner Eltern erfüllten oder ob sie noch andere Beweggründe für die Rückkehr hatten, es berührt mich einfach, dass Eric Carle den Großteil seiner Kindheit in Nazideutschland verbringen musste. Zum Glück waren die frühen Jahre seines Lebens wohl doch die prägenden, sodass er später wieder in seine Heimat USA zurückging. Der Rest ist Geschichte.

Möge nun also die kleine 50-jährige Raupe auch die kommenden Generationen weiter zum Futtern und Flügelausbreiten anregen – ihre Botschaft ist und bleibt trotz all meiner Fragen universell und zeitlos.

Eric Carle: Die kleine Raupe Nimmersatt, Gerstenberg Verlag, 2019, 36 Seiten, ab 2, 10 Euro

PS vom 27. Juni 2019:

Gerade bekam ich eine Mail vom Gerstenberg Verlag, der mir eine Erklärung für die zwei Versionen liefert. Ich zitiere:

»Eric Carle hat die Collagen tatsächlich vor einiger Zeit neu gestaltet, denn die Originale mussten für die neuen und später digitalen Drucktechniken neu eingescannt werden. Die Bilder von 1969 waren dafür nicht mehr geeignet. Der Kleber hatte die Farben zu stark verändert. Sehr schön sieht man das übrigens in der Ausstellung im Museum Wilhelm Busch. Deutsches Museum für Karikatur und Zeichenkunst in Hannover, wo die erste und die neueste Version und über 150 weitere Bilder und Exponate aus dem Atelier noch bis zum 8. September 2019 zu bestaunen sind. www.karikatur-museum.de«

Also, wer Zeit hat und in der Nähe von Hannover ist: Schaut Euch die Originale an. Das ist bestimmt sehr eindrucksvoll und bereichernd.

Danke, liebe Frau Deyerling-Baier, für diese Erläuterungen!

Bimmelbähnchen und Unsinnsreime

IMG_20160529_205129Am Wochenende bin ich mit meiner Nichte, 4, und meinem Neffen, 2,  in das Universum von James Krüss eingetaucht. Für die Lütten war es eine Premiere, für mich eine Reise in die Kindheit.

Wir haben es rumpeln, pumpeln, ruckeln, zuckeln, klappern und plappern lassen. Haben vierzehn Häschen gezählt und Klee gesammelt, echten und ausgedachten. Die Bimmelbahn, die nie nach einem Plan fährt, hatte bei all dem nichts an ihrer Faszination verloren. Immer und immer wieder musste sie die Tour raus auf die Wiesen hinter dem Wald machen. Meine Bimmelbahn-Ausgabe von 1971 geht somit in die nächste Generation über.

Neben Henriette Bimmelbahn haben wir dann noch in den Reimen von James‘ Tierleben geschwelgt. Zwar konnten meine beiden Kleinen mit Medusen und frechen Straußen noch nicht viel anfangen, aber die Hundekunde-Stunde fanden sie toll. Die entsprechenden Illustrationen von Sabine Wilharm haben sie ausgiebig unter die Lupe genommen, eigene Malversuche unternommen, allerdings mit noch nicht viel Wiedererkennungseffekt. Doch das ist erst mal wurscht, wenn es dann hieß: „Noch mal.“

Ich selbst konnte bei den tierischen Reimereien auch kaum aufhören, sie laut vorzulesen. Denn es entsteht zum Teil ein behaglicher Rhythmus – tief in meinem Inneren kamen Erinnerungen an Schnäpse trinkende Möpse und Gedichte ohne Sinn wieder hoch. Als Kind habe ich sicher nicht all diese Gedichte gelesen, doch sie waren irgendwie präsent.
Die Sprachspielereien und -fertigkeiten von Krüss habe ich damals natürlich nicht erkannt, umso mehr freue ich mich jetzt an dem Erkennen von Hintergründigem in Form von Blauen Blumen, Gedichten mit und ohne E.
Und so plätscherten und wallten Wortwellen durch die Räume, es war eine Wonne, auch ohne Sonne.
Man meint das Seemannsgarn des Helgoländers zu hören, wenn man diese schöne Unsinns-Zoologie auf sich wirken lässt. Und merkt dabei nicht eine Sekunde, dass diese Zeilen, Strophen, Verse bereits über 50 Jahre alt sind. Als universell und zeitlos absurd kann man James‘ Tierleben mit Fug und Recht bezeichnen, es sollte in keinem Haushalt fehlen, egal, ob es dort Kinder gibt oder nicht.
Und auch die getreuliche Henriette wird sicherlich weiter ihre leise Weise bimmeln und durch die Kinderzimmer ruckeln und zuckeln.

James Krüss wäre heute 90 Jahre alt geworden. Herzlichen Glückwunsch und tausendfachen Dank für generationsübergreifende Lesefreude!

James Krüss: Henriette Bimmelbahn, Illustratorin: Lisl Stich, Boje Verlag, 28 Seiten, ab 4, 4,50 Euro

James Krüss: James‘ Tierleben, Illustratorin: Sabine Wilharm, Carlsen Verlag, 2009, 128 Seiten, ab 8, 19,99 Euro