Manche Bücher kommen mit Titeln daher, die erstmal verwundern, doch dann öffnet sich beim Lesen eine ganz wunderbare Welt. Apfelsinen für Mister Orange von der Niederländerin Truus Matti ist so ein Buch.
Hinter dem aprikot-orangenen Cover verbirgt sich eine Geschichte aus dem New York Mitte der 1940er Jahre. Der Protagonist Linus übernimmt den Job seines älteren Bruders und liefert für seinen Vater die Obst- und Gemüsebestellungen aus. Linus‘ ältester Bruder Albert hat sich nämlich freiwillig zur Armee gemeldet und wird in den Krieg in Europa ziehen. Die jüngeren Brüder in der Familie rücken also alle eine Position auf. Linus bekommt daher ein neues Bett, neue Schuhe und eben auch eine neue Aufgabe im Familienbetrieb. Bei seiner Tour nördlich der 53. Straße zwischen Central Park und East River lernt der Junge einen Maler kennen, dessen merkwürdigen Namen er sich nicht merken kann. Kurzerhand nennt er den Mann Mister Orange, weil dieser alle zwei Wochen eine Kiste Orangen bestellt.
Mit der Zeit lernen sich der Maler und der Botenjunge näher kennen. Linus entdeckt ein weißgestrichenes Atelier, in dem sonderbar abstrakte Bilder stehen, auf denen nur rote, blaue und gelbe Vierecke zu sehen sind. Er ist fasziniert von der hellen, klaren Atmosphäre, die ganz anders ist als die dunklen Blümchentapeten und die vollgestellten Zimmer zu Hause. Nach und nach eröffnet der Maler, den der erwachsene Leser ganz schnell als Piet Mondrian erkennt, dem Jungen die Welt der Kunst. Er erzählt ihm, dass er vor den Nazis fliehen musste, weil denen seine Kunst nicht passte. Linus ist hin und hergerissen, zwischen dem Stolz auf seinen großen Bruder Albert, der einem Superhelden gleich für das Gute kämpft, und den neuen Gedanken, die ihm Mondrian näherbringt. Er begreift, dass man auch mit Kunst gegen den Krieg wirken kann. Denn die Kunst kämpft dafür, dass es eine Zukunft gibt, in der die Vorstellungskraft frei bleibt.
Linus ist fasziniert, zumal sein Alltag in dieser Zeit von der Angst um den kämpfenden Bruder geprägt ist. Die ganze Familie fiebert jedem Brief von ihm entgegen. Albert versucht, hoffnungsvoll zu klingen. Aber nicht immer gibt es gut Nachrichten und auch der Tod drängt sich in Linus‘ Leben.
Truus Mattis Roman Apfelsinen für Mister Orange ist ein stilles Buch. New York ist hier die Stadt der Freiheit, in der verfolgte Künstler ihre Visionen umsetzen können. Linus findet unter seinem Bett die Comic-Hefte von Albert und dessen eigene Supermann-Zeichnungen. „Mister Super“ wird zu Linus‘ mutmachenden Begleiter im Geiste, der ihn in der merkwürdigen Zeit begleitet, in der auf einem anderen Kontinent Krieg geführt wird, dessen Auswirkungen jedoch auch in den Straßen von New York hautnah zu spüren sind.
Während Linus Obst- und Gemüse ausfährt, wird er erwachsen. Nicht nur, dass er mit der Angst um den großen Bruder leben muss, er lernt zudem, dass vorhandene Zustände nicht immer so bleiben müssen und das die Kunst einen enormen Einfluss auf die Zukunft und die Freiheit der Gedanken hat. Manchmal muss man nur eine Wand dafür weiß anmalen.
Mondrian arbeitet während dieser Geschichte an seinem letzten, unvollendeten Bild „Victory Boogie Woogie“. Es wird im Buch nirgendwo gezeigt, doch wenn man es nach der Lektüre im Internet recherchiert, ist es, als ob man in Mondrians Atelier steht und die vielen kleinen Klebestreifen auf der Leinwand erkennt, die Straßen von New York vor sich sieht und am liebsten mit Linus Boogie Woogie tanzen möchte – so wie er es schließlich macht, als er das Bild nach Mondrians Tod im Museum sieht.
Apfelsinen für Mister Orange, einfühlsam übersetzt von Verena Kiefer, fällt als Mischung aus Kunst- und Antikriegsroman aus dem Rahmen und ist daher ein kleines Schmuckstück. Der Roman zeigt eindringlich, dass selbst wenn der Krieg auf einem anderen Kontinent stattfindet, die Auseinandersetzung auch vor Ort gewichtige Auswirkungen hat. Und dass man nicht nur als Soldat gegen den Krieg kämpfen kann, sondern auch die Kunst eine nicht zu unterschätzende Kraft für Frieden und Freiheit ist.
Truus Matti: Apfelsinen für Mister Orange, Übersetzung: Verena Kiefer, Gerstenberg Verlag, 2013, 176 Seiten, ab 10, 12,95 Euro