Der Ernstfall

über uns stilleIm Oktober 1962 erreichte der Kalte Krieg seinen vermutlich bedrohlichsten Höhepunkt: die Kuba-Krise. 13 Tage lang schien ein Atomkrieg ganz nah. Der amerikanische Schriftsteller Morton Rhue war damals zwölf Jahre alt, und sein Vater hatte einen Bunker in den heimischen Garten bauen lassen. Welche Angst dahinter gesteckt haben muss, ist für uns heute kaum noch vorstellbar. Das Gefühl, wie es in so einem Bunker zugehen kann, eigentlich auch nicht – außer man bucht in Städten wie Hamburg oder Berlin so genannte Unterwelttouren, bei denen man solche baulichen Monster von innen besichtigen kann.

Wem diese Möglichkeit nicht zur Verfügung steht, kann jetzt im neuesten Roman von Morton Rhue in diese Welt aus Angst und Beklemmung eintauchen. In Über uns Stille spinnt er die Kuba-Krise weiter. Die Bomben sind abgeschossen und auf dem Weg in die USA. Scott wird des Nachts von seinem Vater aus dem Bett gerissen und in aller Hektik in den Bunker im Garten gejagt. Panik breitet sich aus. Nachbarn bedrängen die Familie, sie mit den Bunker zu nehmen. Doch der ist nur für vier Personen gebaut und ausgestattet. Beim Einsteigen rutscht Scotts Mutter von der Leiter und verletzt sich schwer am Kopf. Immer mehr Nachbarn drängen hinzu, Scotts Vater muss sich zur  Wehr setzten. Doch als er endlich die Luke schließen kann, sind sie zu zehnt im unterirdischen Sicherheitsraum. Und keiner weiß, wie lange sie dort unten ausharren müssen. Die Vorräte werden nicht lange reichen, als Toilette gibt es nur einen Eimer, die Belüftung muss mit Hand betrieben werden und auch die Wasserversorgung scheint nicht zu funktionieren. Die Stimmung ist angespannt, zumal Scotts Mutter immer noch bewusstlos ist.

Gegen diese Schilderung im Bunker setzt Rhue Kapitel, die von der Zeit vor dem Krieg erzählen. Vom Hass auf die Russen, von der anschwellenden Bedrohung, der unterschwelligen Angst, die sich auch auf die Kinder überträgt.

Rhue, der bekannt dafür ist, schonungslos über die Erlebnisse von Kindern und Jugendlichen in einer von Erwachsenen dominierten Welt zu berichten, wie in Die Welle oder in Asphalt Tribe (was Stefani Kampmann in einer ganz hervorragenden Graphic Novel adapiert hat), macht sich auch mit Über uns Stille wieder zum Anwalt der Kinder. Mit ihren Augen betrachtet er die Machtspiele der Politik, die Ressentiments der Erwachsenen und wirft dabei die fundamentale Frage auf, wie viel Solidarität und Hilfsbereitschaft ein Mensch aufbringen kann, wenn die eigene Existenz bedroht ist. Also, wie viele Menschen nimmt man in einem Bunker auf? Wo setzt man Grenzen? Wie viel Egoismus ist im Fall der Apokalypse überhaupt sinnvoll, wenn draußen alles verseucht ist?

Dies ist sicher kein unterhaltsamer Roman, aber dafür ein umso hellsichtiger und philosophischer, der den Leser zu einer Stellungnahmen zwingt. Und wenn man das Kräftemessen zwischen Israel und Iran momentan beobachtet, beschleicht einen das ungute Gefühl, dass Rhue trotz des 50 Jahre alten Themas den Nerv der Zeit getroffen und einen hochaktuellen Roman abgeliefert hat.

Morton Rhue: Über uns Stille, Übersetzung: Katarina Ganslandt, Ravensburger Buchverlag, 2012, 239 Seiten, ab 14, 14,99 Euro

Stefani Kampmann: Asphalt Tribe, Graphic Novel nach dem Roman von Morton Rhue, Ravensburger Buchverlag, 2011, 155 Seiten, ab 13, 16,95 Euro

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