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Mit allen Wassern gewaschen

Zwei große, glänzende Toaster
– Zwanzig Kalender – das waren große Pappen mit den Tagen drauf
– Zehn Abroller mit dickem Klebeband (Sie waren ein bisschen klein, aber hatten knallige Farben, das konnte helfen, um aufzufallen)
– Zehn Tablets (deren Akkus leer waren, sodass man die unglaublich vielen Wörter und Bilder und Filme, die darauf waren, nicht mehr sehen konnte.)
– Fünf Taschen (Manche sahen vornehm aus, andere waren Einkaufstaschen mit Werbung drauf. In einer davon stank ein platt gedrücktes Butterbrot vor sich hin.)
– Sechs Gummihandschuhe (Einen behielt sie für sich, um damit zu spielen, denn mit Augen drauf wurde er zu einem Gesicht.)
– Vier eckige Kissen, die lose auf den Stühlen lagen.
– Topfpflanzen (Denen wollte sie Wasser geben, dann gingen sie nicht ein.)
– Alle Geschirrtücher und Handtücher aus der Küche der Kantine (damit kam man ganz schön weit, wenn man sie ausbreitete.)
– Dreißig Tabletts aus der Kantine (langweilige braune, aber das macht nichts.)
– Drei gemalte Bilder (die ihr nicht gefielen)
– Eine Rolle Luftpolsterfolie (Vorher ließ sie viele Luftpolsterblasen zerplatzen, denn das machte Spaß.)
– Ein paar Kleiderhakenbretter (eigentlich waren die zu dünn.)
– Dreißig Schubladen, die sie aus Schränken gezogen hatte (Alles, was darin war, kippte sie vorher auf den Fußboden.)
– Fünf Rollen Alufolie aus der Küche (die glitzerten schön, das fiel auf.)
– Zwanzig Bücher (Die meisten sahen nicht so spannend aus, das waren keine richtigen Bilder drin und sie hießen zum Beispiel Wegweiser in einer Welt des Wandels. Aber eine schönes Fotobuch war auch darunter mit besonderen Gebäuden aus der ganzen Welt.)

Alle diese Dinge braucht Jona, um auf dem Dach des Hochhauses in zehn riesigen Buchstaben und einem Ausrufezeichen den Satz »ICH BIN HIER!« zu legen.

Unterm Radar

Das ist auch der Titel von Joke van Leeuwens hervorragender und packender Erzählung – zunächst eine Mischung aus Robinsonade und Klimathriller. Vor allem ist es aber eine Geschichte der Selbstbehauptung eines Kindes, das gewohnt ist, unter dem Radar zu leben. Und nicht nur aufs Klima bezogen gilt das für die ganze jüngste Generation, so sehr, wie ihre Bedürfnisse von den Älteren ignoriert werden.
Interessanterweise ist auch das Mädchen Jona wie Cato in Cato und die Dinge, die niemand sieht Halbwaise: »Ihre Mutter war krank geworden und niemand hatte sie wieder gesund machen können.« Auch hier ist der Vater emotional abwesend, versorgt sie mit dem Lebensnotwendigen, hat aber immer etwas zu regeln oder zu Ende zu bringen. Weshalb Jona nach der Schule zu ihm ins Büro kommt, das im einzigen Hochhaus ihres kleinen Heimatortes steht, dreißig Stockwerke hoch. Wo ihr Vater sie nach mehreren Stunden lobt, dass sie schön still gewesen war. »Das sagte er jeden Tag. Dass sie schön still gewesen war. Als hätte sie auch hässlich still sein können.«

Echt intelligent

Das ist gleich auf den ersten Seiten eine kurze Passage, die zeigt, was für ein erstaunliches Mädchen Jona ist. Ihr Wissen ist beeindruckend (nicht nur für eine Achtjährige). Und zwar nicht auf eine anstrengende, klugscheißerische Art. Sondern echt intelligent, wie sie Gelesenes, Beobachtetes, Aufgeschnapptes klug und raffiniert kombiniert. Man sollte Kinder nie unterschätzen.
Vor allem nicht, weil Erwachsene dazu tendieren, sich selbst in ihrem Erwachsensein zu überschätzen. Sie denken, dass sie alles verstehen und im Griff haben. »Jonas Vater glaubt nicht, dass das Wasser so schnell kommen wird, wie alle fürchten. Er wird genug Zeit sein, um sich in Sicherheit zu bringen.« Und dann reicht das Wasser plötzlich bis zum dritten Stock. Rundum das Hochhaus steht alles unter Wasser. Und Jona ist ganz allein auf dem Dach und weiß nicht, wann jemand kommt, um sie zu retten. Oder ob man überhaupt nach ihr sucht.

Hohe Wertschätzung in den Niederlanden

Das ist ein Buch, wie es nur in den Niederlanden geschrieben wird. Und zwar nicht nur, weil die Niederlande eben so niedrig sind, dass das Land teilweise unter dem Meeresspiegel liegt und durch steigendes Wasser als erstes in Europa, überflutet zu werden und unterzugehen droht. Wobei die Niederländer schon immer mit der Gefahr gelebt haben, teils in Hausbooten oder Pfahlbauten wohnen und das nationale Faible für Campingwagen wie eine prophetische Variante mobiler Tiny Houses anmutet.
Bei der niederländischen Autorin Joke van Leeuwen und ihren Kolleginnen und Kollegen hat das Schreiben für junge Leser einen viel größeren Stellenwert als hierzulande. Nicht nur wird die Kinder- und Jugendliteratur viel mehr gefördert und honoriert. Sie ist auch deutlich anspruchsvoller, weil die Autorinnen und Autoren für Kinder nicht anders schreiben als für Erwachsene. Und man weiß, dass man Kindern mehr zumuten kann und darf, um sie zu fordern, zu fördern, zu unterhalten und auch mit dem Leben klar kommen zu lassen. Oder auch ein Gespür dafür zu entwickelt, wann Regeln ihren Sinn verlieren. Natürlich darf man normalerweise nicht in ein Büro gehen, die Schubladen ausleeren und Dinge daraus mitnehmen.

Zumuten, fordern, fördern und unterhalten

Nach mehreren Tagen und Nächten auf dem Dach überkommt Jona ein Gefühl der Einsamkeit und des Verlorenseins. Als sich schließlich ein Flugzeug dem Hochhaus nähert, aber vorzeitig wieder abdreht, droht sie alle Hoffnung zu verlieren. Als wären alle Anstrengungen, um auf sich aufmerksam zu machen und gerettet zu werden sinnlos.
Das ist absolut nachvollziehbar und lebensecht. Und macht Joke van Leeuwens Geschichte umso berührender und spannender und wunderbarer. Erneut ein brillantes Buch aus dem Nachbarland.

Joke van Leeuwen: Ich bin hier!, Übersetzung: Hanni Ehlers, Gerstenberg, 120 Seiten, 15 Euro, ab 8