Ein Tanz von Kraft

pantherDer Panther ist eines der bekanntesten Werke von Rainer Maria Rilke, es gehört zu unserem Kulturgut, ist Teil des Unterrichtskanons. Viele kennen das Gedicht auswendig, erinnern sich an seine suggestive Kraft, an Gespräche und Diskussionen über das Recht oder Unrecht des vermeintlich Stärkeren, den vermeintlich Schwächeren einzusperren.

Julia Nüsch hat den Panther und seinen Dichter illustriert. Am Anfang sitzt Rilke am Schreibtisch, nachdenklich, zerknüllte Seiten zeigen, dass es schreibend gerade nicht weitergeht. Vielleicht fehlt es an Inspiration? Ein Spaziergang soll helfen. In den Jardin des Plantes in Paris, den Rilke oft besuchte, den Botanischen Garten mit Zoo, in dem noch heute exotische Tiere leben. Am 6. November 1902 trifft der in seinen Gedanken gefangene Dichter auf den Panther in seinem Käfig.

Neben dem reduzierten Ausdruck Rilkes, klar, stark und poetisch zugleich, ist es der Kunstgriff des Dichters, der dieses Gedicht unsterblich macht. Denn Rilke versetzt sich in die Lage des Gefangenen, nimmt seine Perspektive ein. Das ehemals ungezähmte Tier wurde eingesperrt, sein Dasein auf ein Minimum verengt. Der Blick ist müde, die Zahl der Gitterstäbe, die die Freiheit verhindern, scheint sich ins Endlose zu potenzieren. Sein weicher, federnder Gang kann nicht mehr greifen, es fehlt der Raum, das Majestätische der Wildkatze zeigt kaum noch Wirkung. Der namenlose Panther scheint gebrochen. Mitunter träumt er von früher, „schiebt der Vorhang der Pupille sich lautlos auf“ und Erinnerungen an sein früheres Leben, an andere wilde Tiere erfüllen sein Herz. Plötzlich meint er zu tanzen, der Wille zum Leben drängt nach oben, für einen winzigen Augenblick ist der Panther wieder er selbst. Und doch, es ist nur ein Traum, eine Vision — „und hört im Herzen auf zu sein“.

Die Bilder, Farben, Perspektiven sind klug und fein abgestimmt auf die Zeit und die Stimmung. Als wären wir im Kino — die ersten Doppelseiten sind eingefasst wie eine Leinwand —, blicken wir auf den Dichter in seiner Klause. Dann bewegen wir uns mit ihm hinein in die Menagerie, stehen neben ihm vor dem Käfig. Ein wenig zögerlich. Ist das unser Ziel? Noch zeigt uns das schwarze Tier seinen Rücken, doch dann, auf der nächsten Seite, schaut es mit trübem Blick an uns vorbei. Die Nachdenklichkeit des Menschen spiegelt sich in den Augen des Panthers, ab jetzt ist er die Hauptperson. Und rückt ganz nah. Wir können ihn berühren. Sein Schicksal lässt uns nicht mehr los. Die knappen Verse Rilkes erweitern sich zu großartigen Szenen, die zweiseitigen Tableaus berühren uns so tief wie der Text.

Am Ende des Buches ist das Gedicht noch einmal in Gänze abgedruckt, und Rilke sitzt mit entspannter Miene erneut an seinem Tisch. Die Feder fliegt über die Seiten, ein Knoten hat sich gelöst.

Und wir? Wir sind überwältigt von Wort und Bild, wollen reden, uns austauschen, zurückblättern, unserem Herzen Luft machen. Und tragen die Erinnerung an den Panther weiter.

In der Reihe „Poesie für Kinder“ im Kindermann Verlag Berlin ist Der Panther von Rainer Maria Rilke in der Interpretation von Julia Nüsch ein weiteres Meisterwerk!

Heike Brillmann-Ede

Rainer Maria Rilke/Julia Nüsch: Der Panther, Kindermann Verlag Berlin 2018. 24 Seiten, ab 5 (und für alle!), 15,90 Euro