Super kritisch

Doch die herrliche Aussicht darauf, gleich in der geheizten Schule sitzen zu können, trieb ihn weiter.« An der Schule angekommen, steht der zehnjährige Rupert aber vorm menschenleeren Schulgebäude. Auf dem Rückweg verfängt sich sein löchriges Sweatshirt am aufschwingenden, verzierten Tor einer Villa. Rupert knallt gegen die Eisenstangen und fällt in Ohnmacht.
Er erwacht in der Villa der Familie Rivers. »Mit einem toten Mitschüler auf dem Rasen habe ich nun doch nicht gerechnet. Ich habe dich reingeschleppt. Schwer bist du nicht gerade.«
»Aber tot auch nicht«, sagte Rupert.
»Lebendig sieht anders aus! Wie bist du hinters Tor gekommen?«, fragte Turgid.
»Soweit ich weiß, wurde ich mit einem Elektroschock drüber geschleudert«, antwortete Rupert.
»Oh, unser Sicherheitssystem. Aber wieso bist du nicht zu Hause bei deiner Familie? Morgens früh an Weihnachten?«
»Weihnachten?«
»Ja, klar. Das musst du doch wissen«, sagte Turgid.
»Deshalb war niemand in der Schule.«

Märchenhaft elende Verhältnisse

So beginnt das außergewöhnliche Weihnachten des immer hungrigen, immer frierenden Rupert. Und so beginnt Polly Horvaths besonderer Roman Super reich. Mit einer schon klassisch märchenhaften anmutenden Beschreibung von wirklich prekären, also ganz und gar elenden Verhältnissen. Zu viele Kinder, zu wenig Platz, zu wenig Geld, zu wenig Liebe – und vor allem viel zu wenig zu essen.
Dann wird Rupert in eine völlig andere Welt geschleudert, in die der Superreichen. Für die köstliche Speisen im Überfluss und alle erdenklichen Konsumartikel so selbstverständlich sind, dass sie sich verquere Regeln für ein Spiel ausgedacht haben, bei dem an Weihnachten einer zum Schluss alles gewinnt – oder verliert. Ein bisschen Nervenkitzel für die Upperclass.

Hoffnung auf warme Füße

Sie laden Rupert ein. Er kann essen, so viel er will. Das tut das ausgehungerte Kind auch, bis ihm schlecht wird. Und er darf mitspielen. Rupert gewinnt alles, Bücher, Spielkarten, Eisenbahn, Stofftiere, Pullover in allen Farben. Vor allem freut er sich über gefütterte Winterstiefel. »Er hatte es ausgehalten, an den Füßen zu frieren, weil ihm nichts anderes übrig geblieben war. Aber jetzt, da er wusste, sie würden warm bleiben, konnte er die Vorstellung, sie könnten jemals wieder frieren, nicht ertragen. Offenbar konnte man die Dinge nur über sich ergehen lassen, bis es Hoffnung auf Erlösung gab. Entsetzt stellte er fest, dass dies alles nur noch schlimmer machte, denn jetzt hoffte er tatsächlich auf bessere Zeiten. Und Hoffnung ist etwas Schreckliches, weil es die Notwendigkeit erstickte, das Schlimmste zu ertragen.«

Klug komprimierte Hunger Games

Dann kommt eine letzte Frage. Rupert gibt die korrekte Antwort zwei Sekunden zu spät. Und verliert alles. Polly Horvath beschreibt dieses Weihnachten als bitterböse Gesellschaftssatire. Die vermeintlich absurden Regeln des Spiels der Familie Rivers sind die Regeln des Kapitalismus. Von den Reichen erdacht und verselbstständigt. Die, die bereits alles haben, gewinnen immer mehr. Und wenn sie mal verlieren, ist es egal. Weil es ihnen an nichts mangelt und sie das vorhandene Vermögen nur zwischen sich hin- und herschieben. Der arme Rupert hat Spannung und Dramatik ins familiäre Vergnügen gebracht. Weil er hoffte, bangte, sich freute. Für ihn ging es um Existenzielles. Jetzt hat er zwar einmal einen vollen Bauch. Dafür ist er bar jeder Hoffnung. Horvaths Weihnachten ist die klug komprimierte Variante der Hunger Games.

Weihnachtsgeschichte und Kapitalismuskritik

Weihnachtsgeschichten und Kapitalismuskritik haben Tradition, siehe Charles Dickens. Ebenezer Scrooge, der erste literarische Verfechter des Geiz-ist-geil-Diktums, wird wegen Weihnachten sentimental. Auch die Erwachsenen der Familie Rivers haben Mitleid mit Rupert. Jeder für sich wollen sie, ohne Wissen der andern, sein niederschmetterndes Erlebnis wieder gutmachen.
Die Weihnachtsgeschichte ist nur Polly Horvaths Auftakt für viele verrückte Episoden und fantastische Abenteuer durch Raum und Zeit. Dabei erfährt Rupert viel über Abhängigkeiten, unerfüllte Träume, Einsamkeit und unterschiedliche Konstellationen von Liebe und Zusammenleben. Restaurantgäste fliegen vor lauter Genuss unter die Decke. Eingeheiratete Tanten finden ihr Traumziel in Mendocino. Sich immer nur anraunzende Eltern waren einst wirklich verliebt. Teure Anzüge verändern Menschen. Doch nicht jeder möchte Präsident der Vereinigten Staaten werden.

Den eigenen, nahenden Kältetod korrekt diagnostiziert

Das ist so mitreißend und witzig beschrieben, dass man immer mehr lesen möchte. Anne Brauner hat es so frisch und locker übersetzt, dass es sich wie ein Originaltext liest. Hierfür großes Lob an den Verlag Freies Geistesleben, der nicht wie so viele Kinder- und Jugendbuchverlage an der Übersetzung spart.
Polly Horvath kennt sich offensichtlich sehr gut mit Kälte aus. Dass Zehen aufhören zu schmerzen, wenn sie taub gefroren sind, beim Wiedererwärmen dafür umso mehr wehtun, weiß ich aus eigener Erfahrung. Sehr lustig ist es, wie Rupert, angesichts der durch eine Sitzheizung ausgelösten, verwirrenden Heiß-Kalt-Empfindungen wissenschaftlich korrekt seinen nahenden Kältetod diagnostiziert.

Unüberbrückbare Unterschiede

Die abgehobenen Rivers können sich gar nicht vorstellen, dass Rupert nicht wegen einer »Abneigung gegen wärmende Oberbekleidung« statt eines Mantels drei Hemden und einen kaputten Pullover übereinander trägt. Rupert und seine kleine Schwester trauen sich auch nie, das Gratis-Frühstück in der Schule in Anspruch zu nehmen, denn sie werden an der Essensausgabe immer so böse angeguckt – weil sie arm sind. Es sind diese von Horvath geschickt gesetzten Spitzen, die unüberbrückbaren Unterschiede zwischen sehr arm und superreich zum Ausdruck bringen.
Letztlich gehen alle die höchst amüsanten und eigentlich gut gemeinten Gefälligkeitsaktionen in erster Linie für die Mitglieder der Familie Rivers gut aus.
Materiell landet Rupert immer wieder bei Null. Ein Running Gag ist, dass der ständig hungrige Junge immer wieder um das versprochene Essen und den ersehnten ersten Hamburger seines Lebens geprellt wird. Da wird man selbst als Vegetarier schon beim Lesen ganz hungrig.

Etwas zu versöhnlich – aber, hey, es ist Weihnachten

Zu guter Letzt wird Ruperts Hunger überraschend gestillt. Nicht nur sein knurrender Magen ist zufrieden. Der einzige Wermutstropfen dieses Romans ist nämlich, dass sein Ende etwas zu versöhnlich ist. Aber hey, es begann als Weihnachtsgeschichte.
Übrigens hat Super reich dieses Jahr auch deshalb so viel Beachtung erfahren, weil Polly Horvath in British Columbia wohnt und deshalb als kanadische Autorin gilt, aus dem Gastland der Buchmesse. Aufgewachsen ist sie aber in Ohio, dort kennt sie sich aus und dort spielt auch ihre Geschichte.
Ob kanadisch oder nicht – Polly Horvath ist eine geniale Erzählerin. Und Super reich ist eine ganz und gar außerordentlich super gute Geschichte. Nicht nur zu Weihnachten.

Polly Horvath: Super reich, Übersetzung: Anne Brauner, Verlag Freies Geistesleben, 293 Seiten, ab 9, 18 Euro