Schöne Arroganz der Jugend

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Er konnte sie starren hören. Gleich würde sie ihm sagen, dass er ihr ein absolutes Rätsel sei. »Du bist mir ein absolutes Rätsel«, sagte sie. Und dann würde sie ihm sagen, dass sie gar nicht mehr wisse, wer er sei. »Garvie Smith«, sagte sie. »Ich weiß gar nicht mehr, wer das eigentlich ist.«
Mit dieser sehr lebensechten Szene – einer typischen Auseinandersetzung des 16-Jährigen Garvie Smith und seiner resoluten, alleinerziehenden Mutter – beginnt dieser hervorragende Krimi Running Girl von Simon Mason. Garvie ist ebenso intelligent wie gelangweilt von allem. Weshalb er zum Kummer seiner Mutter keine guten Noten mit nach Hause bringt und sich nur sporadisch in der Schule blicken lässt. »Was sah er, das ihn auch nur eine Sekunde lang daran zweifeln ließ, dass das Leben im Allgemeinen nichts weiter als ein in Zeitlupe vor sich hinschleichender, sinnloser, schäbiger und stinklangweiliger Teppichfussel billigster Machart war? Und daher starrte er mit unbewegtem Gesicht weiterhin an die Decke.»Ich glaube, wenn nicht gleich was passiert, raste ich aus«, sagt Garvie.« Und tatsächlich: Kurze Zeit später wird Garvies Mitschülerin, die »schöne, unsympathische Chloe«, ermordet in einem Tümpel aufgefunden. Und Garvies Lebensgeister erwachen.

Vor lauter geistiger Unterforderung unausstehlich

Das ist nur ein Parallele zum berühmtesten Meisterdetektiv Sherlock Holmes. Der wurde vor einigen Jahren in drei BBC-Miniserien mit angemessener Würdigung des Originals exzellent modernisiert. »Gebt ihm einen Fall«, lautet der verzweifelte Ruf seiner Freunde, wenn Sherlock vor lauter geistiger Unterforderung absolut unausstehlich wird.
Revival des legendären Helden von Arthur Conan Doyle, der die von ihm geschaffene Figur schon bald als Monster und Belastung empfand und töten wollte, gab es schon einige, eigentlich war er nie weg. Im Jugendbuch berufen sich auffällig viele weibliche Hauptfiguren auf  Sherlock, zum Beispiel Ingrid in der packenden Trilogie von Peter Abrahams Anfang der 2000er Jahre. Auch bei den aktuellen Krimis fragen sich die jungen, klugen Heldinnen wiederholt »Was würde Sherlock tun?« Und das liegt nicht daran, dass der berühmte Detektiv in Benedict Cumberbatch einen hinreißend attraktiven Wiedergänger gefunden hat.
Simon Mason erwähnt den genialen Kriminalisten namentlich nur spöttisch-ironisch.
Bewusste Irreführung, denn das Vorbild schimmert überall durch und wird ebenso charmant wie raffiniert neu interpretiert – nicht nur in Form von Garvie Smiths sehr ansehnlich beschriebenem Äußeren.

Sherlocks Wiedergänger

Er ist ein brillanter Beobachter mit fotografischem Gedächtnis und nimmt jedes Detail, besonders die vermeintlich unwichtigen wahr.  Seine Merkfähigkeit ist erstaunlich, nebenbei jongliert Garvie im Kopf mit komplexen Zahlen und zieht nachvollziehbare Analogien aus der abstrakten Mathematik. Und er kann sich an Szenen und Dialoge so exakt erinnern, dass es fast quälend ist.
Der 16-jährige Gelegenheitskiffer sieht immer hinter das Offensichtliche und lässt sich nie zu voreiligen Schlussfolgerungen verleiten. Weshalb er auch bei der ersten Begegnung mit Inspektor Singh diesem wütend »Es sind alles die falschen Fragen!« entgegenschleudert. Der Sikh Ramidar Singh ist ein moderner Inspektor Lestrade, nicht dumm, aber gefangen in einem konservativen Polizeiapparat und starren Vorurteilen und immer einen Schritt hinter dem geistig enorm wendigen Garvie.

Angenehm pädagogisch inkorrekt

Der hübsche Schlacks hat eine rasante Auffassungsgabe und erkundet zum Beispiel blitzschnell eine terra incognita wie die weibliche Psyche und verwendet sie für seine Zwecke. Gleichzeitig kokettiert er: »Nichts ist das einzige, was ich wirklich gut beherrsche.« Überhaupt nichts hält er von Ordnung, »sie erschien ihm als eine Form persönlicher Verblödung«. Tatsächlich gerät die »verhängnisvolle Dämlichkeit der Ordnungsliebe« dem Täter zum Verhängnis.
Wie Sherlock greift Garvie auch auf die Fähigkeiten seiner kleinkriminellen Freunde zurück. Ob die Methoden, ein Fahrradschloss oder eine Balkontür zu knacken, tatsächlich so funktionieren, wie minutiös beschrieben, würde man gern ausprobieren. Das ist nur ein erfrischendes Detail von Simon Masons flottem und packendem Stil. Garvie raucht Zigaretten und Gras, das ist stimmig und angenehm pädagogisch unkorrekt. Entzückend ist ein kurzes Zitat aus dem Klassiker To Have and Have Not, der coolste Flirt der Filmgeschichte und gleichzeitig die erste Begegnung Humphrey Bogarts mit seiner späteren großen Liebe und Ehefrau Lauren Bacall. Aber keine Sorge, eine Liebesgeschichte gibt’s in Running Girl nicht.
Überhaupt schreibt Mason, der im Hauptberuf Verlagsleiter ist und bereits die  sympathisch schräge Familiensaga der Quigleys geschrieben hat, wunderbar kitsch- und klischeefrei. Mit so originellen Einsprengseln wie den »auf gewinnende Art schiefen Zähnen«  eines jungen Polizisten.

Beinahe tödliche Coming-of-Age-Erkenntnis

Bis auf eine spätere Szene mit Garvies im Laufe der Geschichte immer mehr von Sorgen zerfressenen Mutter. Aber was zunächst wie ein Fall von emotionaler Erpressung, eine der scheußlichsten Erziehungsmethoden überhaupt, wirkt, läuft später auf eine Coming-of-Age-Erkenntnis hinaus. Natürlich ist Garvie Smith auch die pure Arroganz der Jugend: Man hat alles gecheckt, weiß viel besser, wie das Leben läuft, und die Alten haben sowieso keine Ahnung. Aber plötzlich, auf schmerzhaft eindringliche und beinahe tödliche Weise, versteht Garvie, was es bedeutet, Verantwortung zu tragen: »Ich weiß es jetzt«, flüsterte er, den Mund gegen ihre Schulter gepresst, »ich weiß, was es heißt, Mutter zu sein. Ich weiß, wie es ist, wenn alles deine Schuld ist.« Ein bisschen melodramatisch, aber wahr.
Karsten Singelmann hat Running Girl bereits 2014 übersetzt, damals erschien der Roman unter dem Titel einfallsreicheren Titel Zu schön, um tot zu sein, Rowohlt übernimmt einfach das englische Original. Bei der Gelegenheit hätte ein kleiner Makel redigiert werden können: Es wird ein bisschen zu oft »die Stirn gerunzelt«. Da hätte ein »skeptischer Blick« oder eine »nachdenkliche Mine« oder ein »grübelnder Gesichtsausdruck« gut getan.
Dem fesselndem Krimivergnügen insgesamt mit einem der liebenswertesten Sherlock-Epigonen schadet das nicht. Und der zweite Band Kid Got Shot ist auch soeben erschienen.

Simon Mason: Running Girl, Übersetzung: Karsten Singelmann, Rowohlt, 2019, 480 Seiten, ab 14, 14,99 Euro
Simon Mason: Kid Got Shot, Übersetzung: Alexandra Ernst, Rowohlt, 2019, 416 Seiten, ab 14, 14,99 Euro