Troumesnil, ein Badeort in der Normandie, berühmt für seinen Strand, seine Steilküste und den großen Fischmarkt. Und von dem erschallt gleich auf der ersten Seite der Ruf: »Fische. Schöne frische Fische!!!« und die Replik »Sag mal, willst du damit sagen, dass unsere nicht frisch sind?!«
Eine Kabbelei unter lokalen Fischhändlern – mit diesem netten Asterix-Zitat beginnt der französische Comiczeichner und Autor Bruno Duhamel seine vielschichtige Heldinnengeschichte Niemals. Es hätte auch beginnen können: »Wir schreiben das Jahr 2019. Die ganze Normandie ist von Galliern besetzt. Die ganze Normandie? Nein, eine aufrichtige Normannin hört nicht auf, den übergriffigen Obrigkeiten Widerstand zu leisten. Und das Leben ist nicht leicht für den scheinheiligen Bürgermeister, tumbe Dorfpolizisten und gehässige Ortsansässige.«
Häuser wortwörtlich über die Klippe gegangen
Die wollen nämlich Madeleine aus ihrem Häuschen an der Steilküste vertreiben, wo die Witwe mit ihrem Kater Balthazar wohnt. Tatsächlich sind schon einige Häuser durch klimabedingte Erosion wortwörtlich über die Klippe gegangen. Und auch bei Madeleine sind nicht nur die Hortensien im Garten bereits weggebröselt und müssen trotz der anhaltenden Trockenheit nicht mehr gegossen werden.
Madeleine ist von Geburt an blind, aber nicht blöd, wie sie ihren ignoranten Gegnern immer wieder beweist. Der Bürgermeister würde sie gern im örtlichen Altenheim unterbringen, dort sei gerade ein Zimmer frei geworden, »mit Meerblick«. Eine gedankenlose Frechheit, die nur zu deutlich zeigt, wie rücksichtlos und unsensibel mit alten Menschen und ihren Bedürfnissen umgegangen wird. Dem Bürgermeister geht es nur darum, nicht haften zu müssen, falls seine Bürgerin verunglückt. Madeleine aber lässt sich nicht einschüchtern – im Gegenteil, die kuriose Heldin hat ausgesprochen schlagkräftige Argumente.
Ein Heim voller Erinnerungen
Tatsächlich besucht sie sogar die sogenannte Seniorenresidenz, von Madeleine Todeslager genannt, um sich einen Eindruck zu verschaffen. Die Heimleiterin faselt bei der Besichtigungstour von Bild machen, immer einen Blick werfen, nicht zu vergessen der Meerblick, weshalb das Zimmer teurer ist – wahrscheinlich ist Madeleine diese visuell fixierte Sichtweise der Welt schon gewöhnt. Doch spätestens beim Verbot von Haustieren ist klar: sie wird ihr Haus niemals verlassen.
Ihr Haus steckt voller Erinnerungen an ihren Mann, den Fischer Jules, der oft tagelang auf stürmischer See war. Und eines Tages nicht mehr zurückgekehrt ist. Hier kennt und findet sie alles, jeder Handgriff sitzt, sie kann sich und den Kater perfekt selbst versorgen, kocht, spült, hört TV-Dramen und alte Platten – und Kassetten, die Jules für sie besprochen hat, wenn er auf See war. Ein Heim voller vertrauter Gerüche und Geräusche, umgeben vom Rauschen des Atlantiks.
Bildgewaltiger Traum von stürmischer See und vom Warten
Geradezu filmisch und bildgewaltig ist die doppelseitige Illustration eines Traums, den Madeleine wahrscheinlich wiederholt träumt, mit Unwetter, Blitzen, Gewitter, riesigen Kawensmännern, kontrastreich gezeichnet. Und dazwischen immer wieder Madeleine, erst als junge Frau, dann älter, wie sie am Quai auf Jules‘ Rückkehr wartet. Und dann eines Nachts ein Anruf …
Optisch entzückend ist auch Madeleines solider Kater, der sehr treffend in seinem katzenhaften Verhalten und typischen Posen dargestellt wird – Bruno Duhamel kennt sich offensichtlich mit felinen Wesen aus.
Der Schwarze trickst die Blinde aus
Nur der neue Chef der Berufsfeuerwehr kommt an Madeleine heran – mit einem wirklich witzigen Trick: »Madeleine? Erkennen Sie meine Stimme? Ich bin allein. Ich komme rein, um zu reden, nur zu reden … Sind Sie einverstanden? Sie tun mir nichts, ja? Los, Madeleine, sonst sage ich allen, es ist nur, weil ich schwarz bin! Egal, ob Sie blind sind!«
Madeleine lässt ihn tatsächlich rein, trinkt mit ihm echten Fischerfusel, richtigen Racheputz aus Jules‘ Vorräten – und öffnet ihm die Augen. Sie ist weder senil noch verkennt sie die harte Realität, dass ihr geliebter Mann sich schon lange »die Meeresfrüchte von unten betrachtet«. Und dass die Steilküste schon so weit zerstört ist, dass ihr Garten verschwunden und es nur noch eine Frage der Zeit ist, bis auch ihr Haus ins Meer stürzt. Madeleine ist eine aufrechte Normannin. Bewundernswert, wie die zierliche, weißhaarige Frau auf ihren hochhackigen, roten Schuhen energisch durch die Gegend schreitet. Und ihr Haus und das Recht, darin wohnen bleiben zu dürfen, verteidigt. Der raue Charme der Normandie.
Angst, dass einem ein Bunker auf den Kopf fällt
Bruno Duhamel ist ein echtes Kunststück gelungen: In Niemals thematisiert er Behinderung, Alterseinsamkeit, Diskriminierung und die Folgen des Klimawandels witzig, elegant, intelligent und leichtfüßig. Charmant von Lilian Pithan übersetzt, mit treffenden und zeitlos guten Begriffen wie »bescheuert«. Und die Assoziationen zum anderen großen französischen Comichelden und Freiheitskämpfer kommen auch nicht von ungefähr.
Klimawandel, das ist die Zeit, wo man weniger Angst haben muss, dass einem der Himmel, sondern eher ein Haus oder gleich ein ganzer Bunker am Strand auf den Kopf fällt. Madeleine, die schon viel erlebt hat und alle Veränderungen wahrnimmt, ist wahrlich nicht auf den Kopf gefallen.
Bruno Duhamel: Niemals, Übersetzung: Lilian Pithan, avant Verlag, 2021, 64 Seiten, 20 Euro, ab 14