Herzensbildungsreise

leeDie Mitte ihres Leibes ist vom Nabel bis zum Brustbein frisch vernäht, und ein rötlicher Schimmer dringt von innen durch die Haut, wie wenn eine Laterne unter einem Laken brennt. „Also gut.“ Er packt die Pistole am Lauf, holt aus und zertrümmert der Frau den Brustkorb. Es klingt, wie wenn ein Stein durch eine Eisdecke bricht. Und da liegt das Herz. Es schlägt nicht eigentlich, sondern pulsiert wie eine Wunde.

Dieses Herz soll das Allheilmittel und die Lösung existenzieller Probleme sein. Es soll auch Montys Liebe retten. Die Suche danach hat den jungen Engländer von Frankreich über Barcelona bis in die Gruft auf einer versinkenden Insel vor Venedig getrieben. Und doch muss dieses Herz jetzt vernichtet werden, bevor noch mehr Unheil deswegen geschieht.

Passend zum 200. Geburtstag von Mary Shelleys unsterblichem Klassiker über menschliche Allmachtsphantasien verbreitet die Autorin Mackenzi Lee in ihrem furiosen Historienroman Cavaliersreise, übersetzt von Gesine Schröder, sanftes Frankenstein-Grauen.

Ebenso passend und weiblich pragmatisch packt ausgerechnet Montys jüngere Schwester beherzt zu und beendet den makabren Spuk. Wie hatte sie zuvor sehr richtig bemerkt und damit den jungen Männern die Schamesröte ins Gesicht getrieben: „Frauen können es sich nicht leisten, in Bezug auf Blut zimperlich zu sein.“

Ein solch gruseliges Finale der gemeinsamen Bildungsreise hätte sich weder Henry Montague, genannt Monty, noch sein gestrenger Vater in ihren kühnsten Träumen ausdenken können. Ihre Albträume hatten auch mit Herzensangelegenheiten zu tun, aber ganz anderer Art.

Vor wenigen Monaten noch war Monty halbnackt und verdreht, mit Megaschädel und ohne Erinnerung an den vorherigen Abend aufgewacht, schlonzte kurz am Frühstückstisch vorbei, küsste flüchtig seine Mutter zum Abschied, ließ eine ätzende Unterredung mit seinem Vater über sich ergehen und sprang in die Kutsche. So unbekümmert und formvollendet nonchalant würde man auch gern reisen. Für Monty und Percy, seinen Freund seit Kindertagen, ist es der Auftakt zur Cavaliersreise. Auf die begaben sich im 17. und 18. Jahrhundert junge Adelige nach dem Schulabschluss, um sich zu bilden in Kunst und Architektur, um klassische Kapitalen kennenzulernen wie Rom, Paris, Wien, Florenz oder Amsterdam, und um Verbindungen zu knüpfen in der gehobenen, herrschenden Gesellschaft Europas. Und nicht zuletzt, um sich noch einmal richtig auszutoben, bevor sie Verantwortung für Gut und Ländereien übernehmen.

Heute reist man ganz demokratisch und klassenübergreifend per Billigfluglinie, wobei der Bildungsaspekt mittlerweile kaum eine Rolle spielt und von anschließendem seriösen Lebenswandel auch nicht auszugehen ist.

Was ein großer Spaß für den 18-jährigen Monty und seinen Freund Percy werden könnte, bekommt gleich einen fetten Dämpfer: Nicht nur müssen sie Montys jüngere, ernsthafte Schwester Felicity mitschleppen, die kaum ihre bebrillte Nase aus ihren Schundromanen nimmt. Als absolute Spaßbremse wird ihnen noch ein Tutor aufgedrückt, mit allen notwendigen Reisepapieren und strengem Zeitplan sowie erzieherischem Auftrag.

„Ich verspüre den Drang, mich auf seine Schnallenschuhe zu übergeben“, kommentiert Monty für sich den ungewünschten Reisebegleiter. Aber man ahnt, dass sich hinter seiner reizend schnodderigen Fassade tiefe Gefühle und große Ängste verbergen. Und er wiederum kapiert, dass auch Percy und Felicity Geheimnisse haben. Und überhaupt ist die Welt ganz anders, als er sie bisher aus seiner privilegierten Perspektive als junger, attraktiver, wohlhabender und weißer Mann wahrgenommen hat. Allein für diese Erfahrung lohnt sich die Reise.

Schon bald ist klar, dass die amerikanische Historikerin Mackenzi Lee nicht nur eine packende Abenteuergeschichte geschrieben hat, gewürzt mit reichlich Promille und Flirts, prunkvollen Festen und üppigen Kostümen, inklusive Verfolgungsjagden, Räubern und Piraten. Wenn Monty aufgescheucht von einem Techtelmechtel nackt über den Rasen von Versailles flitzt, muss ihm seine kleine Schwester sagen, dass die Situation für ihn jetzt ein vielleicht ein bisschen peinlich ist, für sein Gespielin aber mehr als den sozialen Tod bedeutet.

Und nicht nur Felicitys vermeintliche Liebeslektüre lehrt einen einmal mehr, dass man ein Buch nicht nach seinem Umschlag beurteilen soll: Nur weil für Monty Percys dunkle Hautfarbe – Percys früh verstorbene Mutter stammt aus der britischen Kolonie auf Barbados – kein Thema ist, sondern ihn in Montys Augen eher noch attraktiver macht, ist der relativ behütet aufgewachsene, farbige Junge trotzdem alltäglichem Rassismus und Vorurteilen ausgesetzt. Wie auch Montys Schwester als Mensch zweiter Klasse gilt, eben weil sie ein Mädchen ist. Beiden wird eine fundierte Ausbildung, ein Studium und ein selbstbestimmtes Leben verweigert.

Selbst Monty darf nicht so leben und vor allem nicht so lieben, wie er will. Wie ein blutroter Faden zieht sich seine Herzensangelegenheit durch die Geschichte. Es ist das ewige, verwirrende, erregende, auch nervtötende Spiel aus Anziehung und Zurückstoßen, Schüchternheit und Mut, Sprachlosigkeit und der Angst endgültig die Antwort zu bekommen, die man am meisten fürchtet, die Angst vor dem Verlust. Hier wird sie nicht unwesentlich dadurch kompliziert, dass Monty Percy liebt, einen Mann, und sich nach dessen Körper sehnt. Vor 200 Jahren galt die sogenannte „Sodomie“ als Kapitalverbrechen und ist auch erst seit den 1970er-Jahren kein Verbrechen mehr – hierzulande.

Es ist eine packende Herzensbildungsreise: Für Monty, der immer ein charmanter Exzentriker bleiben wird, nun gezeichnet mit ein paar Narben und oberflächlich nicht mehr ganz so schön, dafür innerlich gereift und wesentlich weniger egoistisch. „Tausend Meilen musste ich reisen, um zu begreifen, dass ich nicht so übel bin wie meine übelsten Taten“, schreibt er abschließend aus dem griechischen Exil. Und für den Leser, der diesen kuriosen Gentleman mit dem größten Vergnügen fast 500 Seiten lang begleitet.

Mackenzi Lee: Cavaliersreise. Bekenntnisse eines Gentlemans, Übersetzung: Gesine Schröder, Carlsen, 496 Seiten, ab 16, 19,99 Euro

Kommentar verfassen