Seit ein paar Wochen ist bei uns in Deutschland die Ehe für alle eine beschlossene Sache, und ich freue mich, dass alle Liebende, egal, welche sexuellen Präferenzen sie haben, heiraten können, wenn sie das denn wollen.
Mit dem Beschluss der Ehe für alle haben jedoch in gewissen Kreisen die Diskussionen und die Ablehnung der Ehe für Homosexuelle nicht aufgehört, sondern nehmen zum Teil echt absurd maßlose Züge an, wenn pauschal Homosexuellen pädophile Neigungen unterstellt werden. Man fasst sich an den Kopf und möchte diese Menschen eigentlich nur schütteln. Alternativ könnte man ihnen jetzt auch das Buch Väterland des Franco-Algeriers Christophe Léon in die Hand drücken, damit sie alle noch mal genau überlegen, was sie da eigentlich von sich geben.
In Väterland beschreibt Léon ein dystopisches Frankreich, in dem einst die Ehe für alle üblich, also eigentlich nicht der Rede wert war. So haben George und Phil vor 15 Jahren geheiratet und dann Gabrielle als Baby aus Somalia adoptiert. Jahrelang führen die beiden Künstler und das Mädchen ein unbeschwertes Familienleben. Gabrielle liebt ihre beiden Väter über alles.
Doch nach und nach ändert sich die Stimmung im Land. Die Nachbarn schauen das Paar anders an, Gabrielle wird in der Schule von Mitschülern beschimpft, ehemalige Freunde meiden die Familie. Die Regierung veranlasst, dass Homosexuelle neue Pässe bekommen, mit dem offensichtlichen Vermerk ihrer sexuellen Ausrichtung. Die Betroffenen werden gezwungen, eine rosa Stoffraute an der Kleidung zu tragen, und müssen schließlich aus der Pariser Innenstadt in ein Ghetto am Stadtrand ziehen.
Spätestens hier kommen definitiv unangenehme Assoziationen hoch, an die Zeiten vor über 70 Jahren, als die Nazis genau das in unserem Land getan haben. Nur dass sie die Homosexuellen nicht ins Ghetto, sondern gleich ins Konzentrationslager deportiert haben. Doch auch nach Ende des Zweiten Weltkrieges hat die Diskriminierung von Homosexuellen hier noch lange nicht aufgehört. Trotz Ehe für alle sind wir, meines Erachtens, noch weit von einer Gesellschaft entfernt, in der es völlig egal ist, welche sexuellen Vorlieben man hat, und in der man gelassen und ohne journalistischen Voyeurismus damit umgeht. So lange das jedoch nicht erreicht ist, kann die Stimmung immer wieder umschlagen, und genau das zeigt Christophe Léon.
In seinem kurzen Roman schafft er sehr rasch eine bedrohliche Atmosphäre von Angst und Überwachung. Er nutzt dafür die Ich-Erzählung der 12-jährigen Gabrielle, die davon berichtet, wie ihre Väter unerlaubterweise nach Paris fahren, um ihr ein Geburtstagsgeschenk zu kaufen. Auf dem Weg in die Stadt haben die Väter einen Unfall und flüchten verletzt durch die Straßen – auf Hilfe von Mitbürgern können sie nicht hoffen. Diese rufen vielmehr sofort die 666 – eine sehr schöne teuflische Metapher –, damit die Miliz sofort mit der Jagd auf die „Rosa Rauten“ beginnt. George und Phil versuchen, den allgegenwärtigen Überwachungskameras und Abfangbrigaden zu entgehen und wieder zu ihrer Tochter zu gelangen …
Schon nach den ersten Seiten finden sich die Leser in einem orwellschen Kosmos in der Gegenwart wieder, den man so überhaupt nicht möchte. Der jedoch, wenn wir ehrlich sind, gar nicht so weit entfernt ist. Dieses Unbehagen an der allgegenwärtigen Überwachung paart sich mit der so großartigen Liebe zwischen George, Phil und Gabrielle, so dass man das gesamte Buch mit den dreien mitfiebert. Man leidet mit, wenn die Väter verfolgt werden, man empört sich, wenn sie die Raute tragen sollen, man freut sich, wenn sie ihre Tochter mit hintersinnigem Witz verteidigen oder eine letzte große Ausstellung eröffnen.
Am Ende, das dann fast viel zu schnell kommt, möchte man die drei gar nicht loslassen, will wissen, wie es mit ihnen weitergeht, und hofft, dass sie es den Häschern entkommen.
Und genau so soll Literatur für mich sein. Sie soll mich gefühlsmäßig aufwühlen und gleichzeitig für gesellschaftliche Zustände sensibilisieren, die ganz schnell wieder in fürchterliche Extreme kippen können. Wehret den Anfängen, möchte man rufen, nicht nur angesichts von Rechtsrockkonzerten mit Tausenden von Nazis, sondern auch von verbohrten Menschen, die in Vorurteilen und Angst (vor was?) verhaftet geblieben sind und sich keine Liebe jenseits von Mann und Frau vorstellen können.
Väterland ist eine bittere Lektüre, doch vielleicht trägt sie zu mehr Akzeptanz und Selbstverständlichkeit von anderen Lebens- und Liebesformen bei.
Das wünsche ich mir jedenfalls.
Christophe Léon: Väterland, Übersetzung: Rosemarie Griebel-Kruip, Mixtvision, 2017, 116 Seiten, ab 14, 9,90 Euro