[Gastrezension] Musikalische Wolfsjagd 2.0

campinowolfWer einmal Sergei Prokofjews Musikstück Peter und der Wolf gehört hat, wird beim Klang einer Oboe immer zunächst an eine junge Ente denken, der ihre Abenteuerlust zum Verhängnis wird. Und wenn er ein Fagott hört, einen gestrengen Großvater vor sich sehen. Es ist dem russischen Komponisten mit seiner 1936 uraufgeführten Kindersinfonie gelungen, Instrumenten eine Stimme zu geben, sie zu Schauspielern zu machen und eine Geschichte erzählen zu lassen – und so Kinder an klassische Musik heranzuführen. Auf diese Weise haben Generationen von Kindern den mutigen Jungen Peter, der mit Hilfe eines kleinen Vogels einen gefährlichen Wolf fängt, in ihrer Fantasie lebendig werden lassen. Ganz abgesehen davon ist Peter und der Wolf ein zeitlos schönes Stück.

Dieses Potential hat auch das Produktionsduo Giants Are Small erkannt, bestehend aus dem US-amerikanischen Videokünstler Doug Fitch und dem Filmemacher Edouard Getaz, einem gebürtigen Schweizer. Weil sie aber wissen, dass Kinder heutzutage nicht so leicht zu faszinieren sind, haben sie den Klassiker raffiniert modernisiert: Sie verlegen die ursprünglich im ländlichen Russland spielende Geschichte nach Hollywood und betten die Originalsinfonie in eine actiongeladene Rahmenhandlung ein. Da wird der Großvater zu einem Hippie, der sich als Gärtner um das Anwesen eines Filmstars kümmert und die Jäger werden zu lästigen Paparazzi, ein Seitenhieb auf den Celebritykult.

Vor allem haben Giants Are Small Bilder zur Musik geschaffen, einen liebevoll in Mischtechnik aus Zeichnung, Modellbau und Fotografie gestalteten Trickfilm. Mit der dazugehörigen App können Kinder die Wolfsjagd interaktiv vorantreiben und die Schlinge zuziehen.

Auch musikalisch haben sie das Stück erweitert. Zwar wird Prokofjews Sinfonie im Original unverändert komplett gespielt, im sogenannten Vorspiel aber klingen zusätzlich zahlreiche Kompositionen von unter anderem Satie, Elgar, Mahler, Grieg, Mussorgski und Ravel an.
So sollen Kinder heute für klassische Musik begeistert werden. Allerdings sind diese Schnipsel so kurz angespielt und teils schon so oft verwendet und zweckentfremdet, dass manches Kind darin zwar einen Reklamejingle erkennen mag, aber nicht auf die Idee kommt, dass sich ganze Sinfonien und Opern, also abendfüllende Spielfilme sozusagen, dahinter verbergen könnten. Natürlich darf bei der actionreichen Verfolgungsjagd mit einem riesigen Roboter und Hubschraubern Wagners Walkürenritt nicht fehlen. Das schrammt knapp an der Banalisierung vorbei. Und leider ist immer noch nicht geklärt, was aus der Ente wird, die „der Wolf in seiner Gier im Ganzen verschlungen hat“ und die zum Schluss leise aus dem Bauch herausquakt. Dabei soll in der Neuinterpretation die Ente geradezu menschliche Züge haben und Peters bester Freund in der amerikanischen Fremde sein.

Erzählt wird die Geschichte im amerikanischen Original vom Rockmusiker Alice Cooper. Der deutsche Alice Cooper ist Campino, seines Zeichens nicht nur Sänger der Toten Hosen, sondern schon als Mackie Messer mit Brechts Dreigroschenoper und für Wim Wenders als Schauspieler unterwegs. Klassikbezug hat er auch, hat er doch soeben mit seiner Band und dem Sinfonieorchester der Düsseldorfer Robert Schumann Hochschule ein Album namens Entartete Musik – Willkommen in Deutschland veröffentlicht, das von den Nationalsozialisten verbotenen Komponisten endlich wieder Gehör verschafft. Die lustigen Opel-Gang-Zeiten sind schon lange passé.
Campino habe sich geehrt gefühlt, dass man ihn als Erzähler ausgesucht hat. Und es war ihm wichtig, dass das von ihm sehr geliebte Original erhalten bleibt. Campino macht seine Sache als, wie er zugibt, nicht-professioneller Sprecher sehr charmant und mit hörbarer Freude.

Peter und der Wolf in Hollywood ist eine überwiegend sehr gelungene und reizvolle Modernisierung des bald 80 Jahre alten Klassikers. Nur eines gelingt der neuen Version nicht – oder man traut es multimedial überreizten Kindern heute nicht mehr zu: Mit den Ohren zu sehen.

Elke von Berkholz

Sergei Prokofjew/Giants Are Small: Peter und der Wolf in Hollywood, erzählt von Campino, eingespielt vom Bundesjugendorchester unter der Leitung von Alexander Shelley, Deutsche Grammophon, CD, 52 Minuten, Download oder Stream mit interaktiver App, auch in einer Sonderedition mit 48-seitigem Buch, ab 3 Jahren, 16,99 Euro

 

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