40.000 Kilometer durch das Meer

Meeresschildkröte

Die ersten Schritte einer Meeresschildkröte sind die gefährlichsten. Der erste Strandspaziergang der frisch geschlüpften Reptilien kann auch ihr letzter sein. Doch wenn sie die ersten 24 Stunden nicht gefressen werden und die Brandung erreichen, können sie 80 Jahre alt werden.

Klein, kraftlos, mit Delle

Die kleine, sogenannte Unechte Karettschildkröte oder Caretta caretta, die japanische Fischer 1997 in den Wellen fanden, hatte es zwar lebend bis ins Meer geschafft. Aber sie war klein, kraftlos und hatte eine Delle im Panzer. Die Männer gaben ihr Fisch und den Namen Yoshitaro und brachten sie ins Aquarium in Kapstadt.

Der Ruf des Meeres

20 Jahre später ist Yoshi ein ziemlicher Oschi, von zwei auf 183 Kilogramm angewachsen und 107 Zentimeter lang. Und Yoshi hört den Ruf des Meeres. Das entspricht dem natürlichen Lebensrhythmus von Meeresschildkröten – dorthin zurückzukehren, wo sie geschlüpft sind. Yoshi und das Meer ist die unglaubliche und doch wahre Reise einer Meeresschildkröte, von der die Meeresbiologin und Künstlerin Lindsay Moore faszinierend erzählt.

Trainiert und mit Peilsender versehen

Die ersten zwei Jahrzehnte im Aquarium sind schnell und prägnant dargestellt. Bevor Yoshi tatsächlich ausgewildert wird, versuchen die Menschen sie auf das Leben und die Gefahren im Meer vorzubereiten. »Was ist mit Tigerhaien und Zusammenstößen mit Schiffen? Was ist mit treibendem Plastik und Fischernetzen?« Plastiktüten, die für Quallen und Futter gehalten werden, und Netze sind tatsächlich die größten Bedrohungen. »Yoshi dreht ihre Runden und frisst mehr als sonst. Sie trainiert für den Heimweg.« Kurz bevor Yoshi in die Freiheit entlassen wird, wird ihr noch ein Peilsender auf den Panzer geklebt.

23.167 Funksignale

Und so weiß man, dass diese Meeresschildkröte 40.000 Kilometer durchs Meer geschwommen ist, mit einem Ziel, das bis zur Ankunft nur sie kannte. Lindsay Moore zeigt diese Reise in hinreißenden und atemberaubenden Doppelseiten. Yoshi schwimmt durch türkisgrüne Weiten und mitternachtsblaue Tiefen. Sie schwimmt an der Seite von Delphinen, Kugelfischen, Robben und Walen, vorbei an Korallen und Quallen, futtert Garnelen und Schnecken. Und zwischendurch kommt sie immer wieder an die Oberfläche und sendet ein Signal: Grüße von Yoshi. 23.167 Funksignale schickt sie in 982 Tagen.

Prägnant und poetisch erzählt

Moore erzählt anschaulich, in wenigen prägnanten, auch poetischen Worten. Ihre fantastischen Bilder orientieren sich an tatsächlichen Gegebenheiten wie den Unterwasserlandschaften, bekannten nahrungsreichen und auch gefährlichen Gründen, Gegenden, wo besonders viele Fischereiboote unterwegs sind, mit Schleppnetzen, Leinen und Haken. Yoshi ist eine freie Schildkröte.

Schlau, mutig, entschlossen

»Das ist Yoshi, die Meeresnomadin.« »Das ist Yoshi, die schlaue Schildkröte.« … die mutige Schildkröte, die entschlossene. So beginnen die meisten Doppelseiten. Und es passt, es ist wirklich sehr beeindruckend, wie die Meeresschildkröte die unfassbar lange Reise beharrlich fortsetzt, eins wird mit den Strömungen, Tälern, Bergen, Plateaus und alle Hindernisse bewältigt. Johanna Ruhl hat dieses wunderbare Reisebuch einfühlsam und kitschfrei übersetzt.

Hohe Sachbuchkunst

Zum Schluss gibt es noch einen hervorragenden Sachbuchteil. Pointiert und präzise werden Unechte Karettschildkröten vorgesellt, ihre perfekt ans Leben im Meer angepasste Anatomie und ihr Lebenszyklus, zu der auch diese unglaubliche Reise gehört. Moore zeigt auch die komplexe Unterwassergeographie und welchen Einfluss diese auf Flora, Fauna und Nahrung für die Meeresbewohner hat. Und welche Gefahren von Plastik in den Ozeanen ausgeht. Die amerikanische Autorin illustriert diese wesentlichen Informationen auch optisch eingängig. Das ist nicht nur hohe Bilderbuchkunst, sondern auch das ideale Sachbuch für jedes Alter – klug, wissenwert, wunderschön und berührend.

Lindsay Moore (Text und Illustrationen): Yoshi und das Meer – Die unglaubliche Reise einer Meeresschildkröte, Übersetzung: Johanna Ruhl, CalmeMara Verlag, 64 Seiten, ab 5, 25 Euro