Tanz ums goldene Nichts

Spinnen

Mit ihrem fantastischen Spekulationsgewinn kauften die Aliens weiter Aktien. Und jedes Mal brach die schon bekannte Hysterie an der Börse aus. Immer wollten alle kaufen, was die Außerirdischen kauften, taten es auch und wurden prompt hereingelegt. Trotzdem machten beim nächsten Mal wieder alle mit. Denn es finden sich auf dieser Welt immer genügend Leute, die mitmachen, wenn es heißt: Jetzt verdienen wir ganz viel Geld, ohne dafür einen Finger krumm zu machen.«
Die Außerirdischen brauchen keine Laserkanonen, Neutronenstrahler, telepathische Bomben oder was das galaktische Waffenarsenal sonst so bietet, um in Burkhard Spinnens brillantem SciFi-Abenteuer Fipp, Vanessa und die Koofmichs die Menschheit zu vernichten. Das erledigt die dank ihrer Gier und der globalisierten Marktwirtschaft schon selbst – zumindest fast.

Mit leisem Humor regierender und reagierender Kanzler

Wenn nicht Philipp Franziskus Ferdinand Maria von Westen und zu Beuthen, ein plietscher 13-Jähriger aus sehr altem, sehr verarmtem Adel, genannt Fipp West, und seine tatkräftige, mutige Freundin Vanessa wären. Sowie ein kluger, zurückhaltender, besonnen und mit leisem Humor regierender und reagierender Kanzler.
An einem warmen Freitagnachmittag Anfang Mai landet ein Ufo inmitten von Touristen und Ausflüglern vor dem Kanzleramt, mitten in Berlin. Flugs wird ein Krisenstab mit etlichen mehr oder weniger talentierten Spezialisten und Experten eingerichtet. Oberstes Gebot ist: Ruhe bewahren, die außerirdischen Besucher auf keinen Fall verschrecken oder provozieren.

Shoppen, Konsumieren, Extremkoofen

Die drei völlig langweiligen, wie stereotype Schaufensterpuppen aussehenden Außerirdischen interessieren sich aber überhaupt nicht für die Einheimischen. Sondern nur fürs Shoppen, Konsumieren, Extremkoofen. Erst im Edelkaufhaus um die Ecke. Dann en masse im Internet. Per erworbenem Tablet, mit 300 Bestellungen pro Minute, vom Tischfeuerzeug bis zu russischen Kampfhubschraubern. Alles auf Kosten der Staatsbank, die mit ihren stündlich gen Null schwindenden Reserven für die Kreditkarte bürgt.
Schon bald stauen sich die Lieferwagen in langen Schlangen auf dem Weg zum Brandenburger Tor. Die galaktischen Powershopper packen Pakete im Akkord aus, das meiste befinden sie für Ramsch und werfen es flugs weg und hinter sich, wo es zusammen mit Unmengen von Verpackungsmaterial zu einem imposanten Sperrmüllberg anwächst.

Skrupelloser Internethändler verschärft Kaufexzess

Rasant verschärft wird der kranke Kaufexzess durch einen absolut skrupellosen Internethändler, der dank seines Algorithmus und extrem aggressiver Kaufempfehlungen sein eh schon dominierendes Unternehmen Horrizon zum ersten und allmächtigen Sternenkaufhaus namens Interstellar ausbauen will.
Ebenso witzig wie intelligent rechnet Burkhard Spinnen in seinem dritten Kinderbuch mit ungebremster Marktwirtschaft, Konsumdiktat und Internethandel ab. Tragikomisch und drastisch zeigt er die globalen Folgen, sowohl sozial als auch ökologisch. Firmen gehen im Minutentakt Bankrott, Existenzen werden vernichtet. Und alle machen mit. Weil sie es schon von kleinauf so lernen und vorgelebt bekommen, zum Beispiel durch zubehörsüchtige Puppen.

Entfesselte Aktienmärkte treffen auf zockende Aliens

In wenigen Worten erklärt Spinnen die Dynamik von entfesselten Aktienmärkten, für deren zynische und zerstörerische Wirkung es nicht unbedingt ein paar an der Börse mitmischende Aliens braucht. Auch sogenannter Influencer mit ihrem schlechten Einfluss auf den Massengeschmack bekommen ihr Fett weg.
Das ist so gut und mitreißend geschrieben, so einfallsreich, mit originellen Gedankensprüngen, Überlegungen zu Stimmung versus Action, famosen Zitaten, und sogar einem Schuss echter Romantik, wie man es nur sehr selten zu lesen bekommt. Dazu erweckt Spinnen die unterschiedlichsten Typen zum Leben – vielschichtige Charaktere, die im krassen Gegensatz zu den sowohl optisch als auch in ihrem Verhalten sehr eindimensionalen Besuchern aus dem Weltall stehen. Raffiniert spielt er mit Klischees, wie per se griesgrämigen Hausmeistern, albern krähenden Computernerds, alten Haudegen und verstrahlten Psychologen.

Von wegen Schwarmintelligenz

Geradezu prophetisch entlarvt der Autor im kurz vor der Pandemie geschriebenen Roman Verschwörungstheoretiker und die sogenannte Schwarmintelligenz – die tatsächlich nur dumm ist und auch durch ihre schiere Masse keinen Deut schlauer wird.
Überhaupt ist die Masse leicht zu manipulieren. Am Ende geht es immer um Geld. Wobei die fiktiven Rangeleien wegen provokativer Steuern zwischen aufgebrachten Bürgern und der Polizei vergleichsweise putzig sind, verglichen mit den realen, gewalttätigen Auseinandersetzungen bei Demonstrationen derzeit.

Spinnen setzt auf gesunden Menschenverstand

Dagegen setzt Spinnen auf gesunden Menschenverstand. »Für jedes Problem müsse es eine gute Lösung geben, vorausgesetzt, man denke ernsthaft darüber nach«, sagt sein dritter erstaunlicher Held, der relativ junge Kanzler, der mit seiner »Partei für ersthafte und entspannte Politik, kurz die PEP« angetreten ist. Er ist kein Mann markiger Worte. »Manchmal erklärte er die Dinge ziemlich lange, viel länger, als es Politiker es sonst taten«, heißt es über den sympathischen Staatslenker. Solche Typen braucht die Welt. Burkhard Spinnen entwirft eine absolut wünschenswerte Utopie. Und das ist angesichts der vielen dystopischen Szenarien, auch in der Jugendliteratur, allein schon Grund genug, Fipp, Vanessa und die Koofmichs zu lieben.

Mehr Erhellendes zu Außerirdischen und drohender Apokalypse gibt’s hier demnächst.

Burkhard Spinnen: Fipp, Vanessa und die Koofmichs, Schöffling & Co., 304 Seiten, ab 10, 18 Euro