Wenn einer eine Reise tut, dann kann er was entdecken. Zum Beispiel mitten in Berlin in einem sogenannten Kulturkaufhaus, einem großen Buch- und Tonträgerladen, auf einem für Touristen zusammengestellten Büchertisch. Zwischen den üblichen Stadtführern mit Gastrotipps, den 100 schönsten Orten, Berliner Geschichten und allerlei Vorschlägen für spezielle Interessen liegt eher dezent, mit blassgrünen Zeichnungen auf dem Einband Berliner Tiere – Ein kleiner Guide für Naturbanausen & Stadtkinder.
Abgesehen davon, dass ich immer anspringe, wenn mich das Bild eines Fuchses anblickt, scheint die Autorin und Illustratorin Marie Parakenings mit dem Untertitel genau mich gemeint zu haben.
Originelles Zahlensystem und frischer Blick auf die Hauptstadt-Fauna
Natur ist echt nicht so mein Ding, viel stechendes Kleinvieh und gern mal ein Wolkenbruch aus heiterem Himmel auf freiem Feld. Und Stadtkind bin ich von Geburt an – mit allen entsprechenden Vorbehalten gegenüber Land, Dörfern und Kleinstädten.
Über marodierende Wildschweine, zutrauliche Füchse und neugierige Waschbären mitten in Berlin hat man schon reichlich gehört. Aber die Designerin Marie Parakenings kommuniziert einen ganz neuen, frischen Blick auf die Fauna der Großstadt.
Abhängen am Paul-Lincke-Ufer
Das liegt auch am originellen Ordnungssystem, mit dem Parakenings die Tiere nach Fakten von 6.000.000 auf Null sortiert. Es fängt mit sechs Millionen Wanderratten an, die sich in Berlin tummeln, also fast doppelt so viele, wie Menschen in Berlin leben. Und wenn’s gut läuft für die vor 600 Jahren zugewanderten Säugetiere, könnte sich das Verhältnis zum Menschen zu ihren Gunsten noch locker verbessern – zahlenmäßig zumindest. Ein Rattenweibchen kann bis zu acht Würfe mit bis zu zwanzig Jungen haben, pro Jahr. Kommunizieren tun die bis zu 200 Tiere starken Familienverbände mit Lauten im Ultraschallbereich und hängen am liebsten, wie auch vor allem junge Berlinbesucher, am Kreuzberger Paul-Lincke-Ufer ab.
Verbündeter im Kampf um autofreie Innenstädte
Dieser allein ob ihrer Menge ziemlich beeindruckenden Hauptstadtbewohnerin folgt ein ebenso hübscher, naturalistisch gezeichneter und liebevoll kolorierter Steinmarder auf pastelfarbenem Fond – und die Zahl 2.500.000. Die nennt aber nicht die Größe der Population. Zweieinhalb Millionen Euro Schaden richten die einst menschenscheuen Allesfresser an Berliner Autos an, indem sie Kabel und Schläuche kaputtbeißen. Ein guter Verbündeter im Kampf für autofreie Innenstädte (meine Sicht, nicht dass die Autorin Ärger mit der mächtigen Autolobby bekommt).
Ansprechende Abschlussarbeit
307.088 Einwohner wiederum hat der Berliner Bezirk, der nach einem Vogel mit sprechendem, onomatopoetischem Namen benannt wurde, dem Stieglitz. »Welcher Bezirk mag das wohl sein? Na … zugezogen? Steglitz natürlich! Im Slawischen heißt das soviel wie da, wo es Stieglitze gibt« schreibt Parakenings. Was sie hier so souverän erklärt, weiß die selbst in Berlin aufgewachsene Autorin erst seit den Recherchen für ihr Buch. Berliner Tiere ist ihre Abschlussarbeit an der Kunsthochschule Weißensee.
Gema-Gebühren und Kotcontent
Es gibt viel Skurriles und Lustiges über Berlins tierische Bevölkerung zu erfahren. Die 168 im U-Bahnhof Hermannplatz lebenden, an Dönerfleisch adaptierten Gleismäuse waren ursprünglich Feldmäuse. Spatzen machen ihre Nester mit Kippen milbensicher. Rotkehlchenmännchen bleiben zu 20 Prozent ihr Leben lang Singles. Und nicht nur die in der Kapitale ansässigen 65 Waldkäuze wären »ziemlich reich, würde ihnen die Gema Tantiemen zahlen für jedes Mal, wenn in Film und Fernsehen ihr typisches huuu huuu ertönt«. Fakten über Fuchsfäkalien, Losung genannt, nennt Parakenings scherzhaft »Kotcontent«. Den Ausdruck könnte man auch als höfliche Umschreibung für den vielen im Netz kursierenden Dreck verwenden.
Für welches Tier steht »4,99«?
Was es unter anderem mit den Zahlen »1945«, »569«, »275« und »4,99« auf sich hat, wird hier auf keinen Fall verraten – unbedingt selbst lesen!
So war diese Reise nach Berlin und ist dieses brillante Tierbuch in vielfacher Hinsicht ein fa(u)ntastisches und bereicherndes Erlebnis.
Marie Parakenings (Text und Illustration): Berliner Tiere – Ein kleiner Guide für Naturbanausen & Stadtkinder, Kulturverlag Kadmos Berlin, 2020, 160 Seiten, ab 10, 19,90 Euro