Lasst Blumen sprechen

Pflanzen

Meister – bei dem Begriff denkt man zunächst an Weltmeister oder, schon seltener, an Weltmeisterinnen, zum Beispiel im Fußball oder einer anderen sportlichen Disziplin. Dann vielleicht an Alte Meister, also Meisterwerke der Kunst und ihre Maler. Oder an Handwerksmeister. Also an Menschen, meist Männer.
Wer kommt da auf Pflanzen? Genau mit diesem Überraschungsmoment lockt Riz Reyes in den Garten und die wunderbare Welt der Pflanzen. Pflanzen können alle etwas, das alle anderen Wesen nicht können. Sie leben tatsächlich von Luft und Liebe sozusagen, genauer von Kohlendioxid, für uns Menschen verbrauchte Luft und Licht. Durch Kohlenstoff wachsen sie und bilden Blätter und Früchte. Und als Abfallprodukt setzen sie den für uns lebensnotwendigen Sauerstoff frei.

Meisterinnen der Erneurung

Zusätzlich sind aber alle Pflanzen noch Meisterinnen und Meister ihrer Klasse und können jeweils etwas ganz Besonderes und Einzigartiges. So sind Narzissen Meisterinnen der Erneuerung, wie der von den Philippinen stammende Riz Reyes erklärt. Die Zwiebeln ruhen im Winter in der Erde. »Wenn es wärmer wird und die Tage länger, begrüßen sie mit ihren leuchtend bunten Blüten den Frühling«, schreibt der Gärtner und Pädagoge. Osterglocken heißen nicht so, weil sie eben meist um Ostern herum blühen. Wegen ihrer Fähigkeit, wiederaufzublühen, sind sie im Christentum ein Symbol für Auferstehung und ewiges Leben.

Geniale Partnerschaft

Oder Pilze, die eine eigene Art für sich sind. Sie sind Meister der Kommunikation und Vernetzung. »Anders als Pflanzen können Pilze sich nicht mithilfe der Photosynthese von Sonnenenergie ernähren, da sie kein Chlorophyll haben. Stattdessen lassen sie sich von Pflanzen, mit denen sie durch ihr Mycel, ein dichtes, fadenartiges Geflecht, verbunden sind, mit Nährstoffen wie Zucker versorgen. Im Gegenzug liefert der Pilz der Pflanze Wasser und und andere Nährstoffe, die er aus der Erde aufnimmt.« Was für eine geniale Partnerschaft! Dagegen sind sogenannte win-win-Situationen aus der Wirtschaft ein lascher Witz.

Pflanzen hinreißend in Szene gesetzt

Jede Pflanze und auch die Pilze bekommen jeweils zwei ähnlich aufgebaute Doppelseiten, auf denen unter anderem Herkunft, Verwandte und Besonderheiten kurz und prägnant erklärt werden. Auch, wie junge Leserinnen und Leser die Pflanzen selbst ziehen können. Die Illustratorin Sara Boccaccini Meadows hat die faszinierenden Pflanzen hinreißend, lebendig und vielfarbig mit Aquarell und Tusche in Szene gesetzt. Ihre Illustrationen sind absolut meisterhaft und Grund genug, dieses Sachbuch lieben.

Leckere und duftende Verwandte

Auch die Familien gehören immer zum großen Ganzen. Da kommen ganz erstaunliche Verbindungen zu Tage. Oder zur Nacht, denn dass die Tomaten zu den Nachtschattengewächsen gehören und ursprünglich aus Süd- und Mittelamerika stammen, wie auch Kartoffeln, Paprika und Auberginen hat man schon mal gehört. Nicht nur leckeres und gesundes Gemüse gehört dazu, sondern auch einige giftige Pflanzen. Aber wer hätte gedacht, dass Apfel, Erdbeeren und Wildrosen eine wohlschmeckende und duftende Familie bilden, die Rosengewächse nämlich.

Kürbis wiederum gedeiht besonders gut zusammen mit Mais und Bohnen, die zwar nicht zur selben Familie gehören, sondern eine weitere kluge Partnerschaft eingehen, was bereits die indigenen Völker Nord- und Südamerikas entdeckt haben. Wie die funktioniert oder warum Orchideen Meisterinnen der Eleganz und der Raffinesse sind … unbedingt selbst lesen und entdecken in diesem absolut faszinierendem Pflanzenbuch, das weit über den Garten hinausgeht.

Pflanzen

Anders, aber mit mindestens ebenso großem Respekt, taucht Alva und das Rätsel der flüsternden Pflanzen in das Reich der Plantae ein. Das Setting von Yarrow Townsends Abenteuerroman wirkt dystopisch: karg, arm, düster, raues Leben, immer feucht.
Die Titelheldin Alva ist spröde und stur, seit dem Tod ihrer Mutter vier Jahre zuvor voller Wut und Misstrauen. Ihr Zuhause ist eine kleine Holzhütte mit einem Garten voller Nutz- und Heilpflanzen, die leise mit ihr sprechen und sie zum Beispiel beraten, wie sie den kranken Huf ihres Pferdes behandeln soll. Captain ist ihr einziger Gefährte, ihre ganze Familie. Diese wird bedroht durch den neuen Ausbruch einer rätselhaften, tödlichen Krankheit, an der auch Alvas Mutter gestorben ist. Sie war eine anerkannte und geschätzte Expertin für Heilpflanzen, die mit ihrem Wissen vielen Menschen geholfen hat. Doch nach ihrem Tod hat der Ortsvorsteher sie als Scharlatanin dargestellt, ihre Fähigkeiten wurden in Zweifel gezogen.

Rettung der flüsternden Freundinnen

Angeblich sind die Pflanzen, nicht nur die in Alvas Garten, die Wurzel allen Übels und sollen alle vernichtet werden, einschließlich dem Getreide. Um das Gegenteil zu beweisen und ihr Zuhause, ihr konfisziertes Pferd und ihre flüsternden Freundinnen zu retten, begibt sich Alva auf eine gefährliche Reise ins Ungewisse. Unterwegs bildet Alva, wider Willen eine Not- und Zweckreisegesellschaft mit dem Jungen Idris, dessen Bruder im Sterben liegt, und der vermeintlich verwöhnten, aus reichem Hause stammenden Ariana.

Bewusste Außenseiterin

Alva ist eine interessante Heldin, gerade weil sie so schroff und misstrauisch ist, und wirklich alle vor den Kopf und von sich stößt. Sie traut niemandem, kann auch erschreckend gemein sein und beharrt auf ihrer Unabhängigkeit. Sie ist bewusst Außenseiterin, man spürt ihre Verletzung und ihre Trauer. Nur in der Welt der Pflanzen fühlt sie sich wohl, weil sie deren Sprache versteht. Getragen von dieser Antiheldin entwickelt sich die Geschichte zu einem vielschichtigen Krimi, der zeigt, was passieren kann, wenn Geldgier auf die Spitze getrieben und Gesundheit zur unerschwinglichen Ware wird.

Auch für Veganer ein Vergnügen

Natürlich bleibt ihre abenteuerliche Reise mit zahlreichen halsbrecherischen Situationen und dramatischen Stunts nicht ohne Folgen auf Alvas weitere Weltsicht. Apropos sehen, den Anfang jedes Kapitels hat Torben Kuhlmann, der Meister famoser und tollkühner Mäusegeschichten, mit einer ausgewählten Heilpflanze illustriert, versehen mit ein paar Information zur Verwendung.
Dies ist beileibe kein rein pflanzlicher Schauerroman. Aber auch für Veganer ein spannendes Vergnügen.

Riz Reyes: Im Garten – Die wunderbare Welt der Pflanzen, Illus: Sara Boccaccini Meadows, Übersetzung: Andreas Jäger, ars Edition 2023, 64 Seiten, 20 Euro, ab 8

Yarrow Townsend: Alva und das Rätsel der flüsternden Pflanzen, Illus: Torben Kuhlmann, Übersetzung: Cornelia Panzacchi, Carlsen, 320 Seiten, 9 Euro, ab 10