Das Schwein und das Nichts

Na, das ist doch gleich mal eine Ansage: »In ein paar Tagen werde ich von einem Drachen verschlungen.« Das stellt ein sympathisches, schwarzes Schweinchen gleich zu Anfang des Kindercomics Kleine Hexe Nebel klar. Und schiebt hinterher: »Ein Schwein, das von einem Drachen gefressen wird. Wen kümmert das?« Und schon ist man drin in der neuen Comicreihe aus Frankreich bei Carlsen, die mit einem Hang zum realistischen Pessimismus beginnt. Frei nach Werner Enkes »Es wird böse enden«, übrigens auch das Lebensmotto der Autorin dieser Zeilen, für das sie von einer Freundin mal übelst beschimpft wurde. Zwanghafte Optimisten können sehr aggressiv reagieren, wenn man ihre Einstellung nicht teilt.

Herkunft nebulös

Aber zurück zur Geschichte: »Eins gleich vorweg, ich bin nicht der Held dieser Geschichte«, sagt das an die niedlichen Hängebauchschweine, Stars des Tierparks Schwarze Berge bei Hamburg, erinnernde nette Tier (weil es stets aufrecht auf den Hinterbeinen läuft, ist von einem Hängebauch allerdings nichts zu sehen, trotz einer Vorliebe für Schokocroissants). Denn der vermeintliche Held des Comicdebüts von Jérôme Pelissier und Carine Hinder ist eine Heldin, die titelgebende kleine Hexe namens Nebel. Die Herkunft des forschen und unerschrockenen Mädchens ist nebulös. Ihr Vater, ein Fischer in einem kleinen Dorf, hat sie als Kleinkind an einem nebeligen Tag am Waldrand gefunden. Zusammen mit einem Buch, das er ihr jetzt, ein paar Jahre später, gibt. »Wenn man dem Glauben schenkt, was darin geschrieben steht, ist es ein wahres Zauberbuch.«

Globale Gefahr zauberhaft besiegt

»WOUAAAAAH!!« Nebel ist völlig aus dem (Baum-)Häuschen. Ist sie etwa doch eine echte Hexe? Gemeinsam mit ihrem Freund Hugo und dem kleinen Schwein stürzt sie sich ins Abenteuer. Kaum ist ein klassischer Kessel besorgt, hext sie auch schon munter los – und entfacht, Stichwort sprechende Namen, einen gewaltigen, alles umhüllenden, phänomenalen und alle Dorfbewohner ängstigenden und lähmenden Nebel.
Das Illustratoren-Paar Pelissier und Hinder ist tatsächlich vor ein paar Jahren in ein kleines Dorf in der Bretagne gezogen. Moment, ein kleines gallisches Dorf? Tatsächlich findet man hier wie beim berühmtesten Gallier lauter skurrile Typen mit ihren alltäglichen kleines Zwistigkeiten. Und dann kam noch ein die ganze Welt umfassendes, tatsächliches Ereignis dazu: Die globale Covid-Pandemie. Anfangs schwer zu begreifen, diffus, bedrohlich wie ein Nebel. Die große Gefahr und wie man sie schließlich besiegt, haben die beiden zu einer ungeheuer lustigen und zauberhaften Geschichte verwandelt.

Räsonabler Liebhaber von Pain aux Chocolat

Damit reiht dieses Buch sich in aktuelle, sehr liebenswerte Geschichten um freundliche Hexen und ihre positive Magie ein, wie in André Bouchards Ein Tag im Leben einer Fee oder Kat Leyhs Snapdragon. Carine Hinder hat diesen Kindercomic famos bebildert, mit anfangs eher klassischen, teils kleinteiligen Panels. Im Laufe der Geschichte werden es großflächigere, berückende Tableaus in satten Farben, die einen tief in animierte Waldlandschaften eintauchen lassen, wo man sagenhaften Gestalten begegnet. Mehr davon, s’il vou plaît, von diesen frischen Galliern, der frechen, kleinen Hexe und dem räsonablen Pain-aux-Chocolat-Liebhaber.

Mehr möchte auch die Titelfigur im Bilderbuch von Regina Schwarz und Florence Dailleux, nämlich mehr sein: »Ich bin ein Nichts und ich bleibe ein Nichts. Und ich sehe nach Nichts aus. Wie ein Nichts eben. Aber das ist ja nichts Neues. Da kann man nichts machen.« So nölt das Nichts vor sich hin. Das von Florence Dailleux gemalte Nichts ist eine unscharfe schwarze Aussparung zwischen sich dicht nebeneinander bewegenden, klar konturierten Tieren, Pflanzen und Formen. Und weil es traurig ist, erkennt man noch zwei Punkte und einen nach unten geöffneten Bogen, das vage Gegenteil eines Smileys.
Am liebsten würde es sich in nichts auflö… (hier verschwindet die Schrift). So raffiniert beginnt Regina Schwarz ihre verblüffend existenzialistische Geschichte.

Wenn niemand mehr mit nichts was zu tun haben wollte …

Oh, jetzt sind aber alle ganz schön erschrocken: »Und dann? Ständen alle da ohne das Nichts. Alle vergewissern das Nichts, dass sie es unbedingt brauchen. Es beginnt ein auch linguistisch sehr reizvolles, ermutigendes Plädoyer: »Niemand könnte mehr sagen: Nichts da!« und die Katze davon abhalten, den Vogel aus dem Käfig zu futtern, oder »Macht nichts!«, wenn ein Malheur passiert. …  »Stell dir vor, wenn niemand mehr mit nichts was zu tun haben wollte. Und sich aus rein gar nichts mehr etwas machen würde.«

Dann wäre es sehr finster, zappenduster, echt deprimierend. Weshalb gleich zwei Doppelseiten rabenschwarz sind. Nur ganz oben links findet sich der verzweifelte Ruf nach dem Nichts. »Denn wir brauchen das Nichts. Denn es ist nicht für nichts gut. Sondern für vieles.« Also Aus und Ende? Stille Apokalypse. Urknall retour? Ist jetzt alles zu spät?  

Ohne Nichts ist alles nichts, oder?

Wie sich mit dem überhaupt nicht nihilistischen Blick auf das Nichts die Sichtweise aller ändert, zeigen wiederum auch Florence Dailleuxs Illustrationen – mit bunten Wesen aus kräftigen Wachsmalstiftstrichen auf schwarzem Karton. Und in ihrem Zentrum, in ihrer Mitte? Seht selbst! Man versteht: Ohne nichts ist alles nichts.
Wer hätte gedacht, dass ein Bilderbuch so charmant derart komplexe semantische und philosophische Fragen umfassen kann. Und die auch noch so außergewöhnlich hübsch, mit klassischen Anklängen bebildert gestellt werden.

Jérôme Pelissier (Text), Carine Hinder (Illustrationen): Kleine Hexe Nebel – Das Erwachen des Drachen, Ü: Marcel Le Comte, Carlsen, 64 Seiten, 15 Euro, ab 8

Regina Schwarz (Text), Florence Dailleux (Bild): Die Geschichte vom Nichts, aracari, 32 Seiten, 15 Euro, ab 5