15 Kapitel für ein ganzes Leben! Als Webcomic 2015 in der literarischen Onlinezeitschrift Hundertvierzehn bei S. Fischer erschienen, haben Thomas von Steinaecker und Barbara Yelin ihre Graphic Novel für die Printausgabe überarbeitet und erweitert.
Der Sommer ihres Lebens erzählt von Gerda Wendt. Ihr Sommer ist fast zu Ende, fast 85 Jahre alt, lebt sie in einem Pflegeheim. Noch findet sie Halt an ihrem Gehstock, wenig später ist zu sehen, wie sie im Rollstuhl geschoben wird. Die Kräfte schwinden. Gleichzeitig ist Gerda hellwach. Erinnerungen an früher, an Stationen, die sie prägten, bewegen sie.
Da ist das Mädchen, das in der Schule durch seine hohe Begabung für die Mathematik auffiel. Etwas vermeintlich Ungewöhnliches, was ihr Lehrer mit großmütig-herablassendem Lob kommentierte; weibliche „Überlegenheit“ provozierte männliche Gönnerhaftigkeit. Diese bekam Gerda auch als Teenie und als junge Frau zu spüren. Ihr Ehemann Peter verfolgte seine Musikerkarriere, die promovierte Physikerin Gerda hatte er zuvor daran gehindert, ein verlockendes Uni-Angebot in Cambridge anzunehmen und ihn bis zu ihrer Rückkehr nach Deutschland auf sie warten zu lassen …
Gerdas Liebe zur Physik — ihre Doktorarbeit schrieb sie über Schwarze Löcher, die Relativitätstheorie Einsteins war ihre Passion — paarte sich mit Fleiß und Leidenschaft einerseits und einer gewissen Weltfremdheit andererseits. Dass sich ein Mann für sie interessieren könnte, überrumpelte sie beinahe. Ihre Rolle als Frau und Ehefrau zu hinterfragen, fiel ihr jahrelang schwer. Erst nach der Scheidung und diversen Fortbildungen u.a. in Computerkursen wurde sie Mitte der 1970er-Jahre Privatdozentin.
Ihre Tochter besucht sie hin und wieder, an der Enkelin freut sie sich. Mehr Bezug hat sie zu den Pflegekräften und später zu dem alten, stets formvollendeten Jörg Stahn, der schon so viel vergessen hat und manchmal orientierungslos ist. Gerda nimmt sich seiner an, die beiden vertrauen einander, und eines Abends erklärt sie dem Freund die Sternbilder am klaren Nachthimmel — so wie es einst ihr Vater tat, als Gerda noch ein Mädchen war: Während eines Feriensommers legte er unbewusst den Grundstein für ihr Interesse an (Astro-)Physik. Eine Schlüsselerinnerung in ihrem Leben und eine der vielen Szenen, die tief berühren. So wie der gemeinsame Blick der beiden alten Menschen in die funkelnde Sternennacht.
Dabei bleibt Gerdas Blick ein realistischer, sie weiß um die klitzekleine Minibedeutung eines menschlichen Lebens angesichts von Raum und Zeit. Doch gleichzeitig ist sie emotional-empathisch, eine Wissenschaftlerin, die an die Existenz der Seele glaubt. Während des Experiments eines Kollegen, der seinen sogenannten Seelendetektor auch an ihr ausprobierte, meinte sie, ihre Seele zu spüren. Ebenfalls ein Schlüsselmoment, den sich Gerda bewahrt hat.
Am Ende ihres Sommers stirbt Gerda. Friedlich und in Erinnerung an jene unbeschwerten Ferientage mit ihren Eltern, die ihr den Weg „ins All“ eröffneten. Jörg bleibt zurück. Würdevoll gekleidet mit Anzug und Hut, der Rücken ist grade durchgestreckt, den Stock in einer Hand, sitzt er auf der Parkbank, wo er vor nicht allzu langer Zeit Gerda kennengelernt hat. Ein Vogelzug fliegt vorbei. Einer tanzt ein wenig aus der Reihe. Und Jörg hebt die andere Hand zum Gruß.
Prall gefüllt sind diese 80 Seiten Leben! In gebotener Graphic-Novel-Kürze liest sich der Text von Thomas von Steinaecker anspruchsvoll, stößt zum Nachdenken und Mitfühlen an, am liebsten würde man sofort miteinander ins Gespräch eintreten. Die Worte erschließen sich auf zwei Ebenen: Auf dunklen, schmalen blauschwarzen Flächen folgen wir Gerdas Erinnerungsschnipseln, die stets überleiten in Szenen „von früher“. In den weißgrundigen Sprechblasen sind die Dialoge von damals und heute eingefügt. Die Kommentare der Ärzte und Pflegerinnen, die am Ende nur noch Gerdas Todeszeitpunkt notieren können, sind farbig hinterlegt; ein Spannungselement. Es ist beeindruckend, wie sich Gerdas Leben entfaltet und wie wir dieser Frau in ihren Lebensetappen folgen können, ihre Höhe- und Tiefpunkte miterleben. Dazu die sensible Illustrations- und Gestaltungskunst von Barbara Yelin, die die Worte zum Leben erweckt. Es berührt zu sehen, wie Gerda in gebückter Haltung ihren Rollator schiebt, sich langsam am Stock fortbewegt, im Rollstuhl geschoben wird. Wie sie, noch immer neugierig und fasziniert, am Fenster ihres kleinen Zimmers steht, ins All blickt und träumt. Wie sie sich hoch betagt den vorgeschriebenen Leibesübungen nicht verweigert oder mit anderen vor dem langweiligen TV-Programm sitzt. Ein alter Mensch, der mitunter nur verwahrt wird. Ein alter Mensch, der einmal jung war, talentiert, kompromissbereit und doch zielstrebig. Ein Mensch mit Würde, Wünschen und Ambitionen, einer von Milliarden von Erdbewohnern. Gerda ist eine Persönlichkeit, sie hinterlässt ihre Spuren. Wir begegnen ihr — und „bauen“ sie in unsere Erinnerung ein. Ganz, ganz großartig!
Heike Brillmann-Ede
Thomas von Steinaecker/Barbara Yelin: Der Sommer ihres Lebens, Reprodukt, 2017, 80 Seiten, 20,00 Euro