Das Hauptstadtlehrbuch

spazieren in BerlinMein Lieblingswanderbuch in diesem Jahr ist eindeutig Franz Hessels Spazieren in Berlin. Wobei der Untertitel der Originalausgabe von 1929 das eigentliche Anliegen dieses Buches verheißt: Ein Lehrbuch der Kunst in Berlin spazieren zu gehn ganz nah dem Zauber der Stadt von dem sie selbst kaum weiss. Das ist ein Versprechen, ein wunderschönes. Und das Buch löst es ein.

In Abständen greife ich immer wieder dazu und suche mir das Kapitel heraus, das gerade zu meinen eigenen Berlin-Erlebnissen passt. Und dann entdecke ich Schätze, die mir die vergangene Fülle dieser Stadt vor Augen führt. Heute zum Beispiel war es der folgende Satz: „Die ganze Seydelstraße entlang stehen gespensterhaft in den Schaufestern die Puppen der Büsten- und Wachskopffabriken, die Attrappen und ‚Stilfiguren’ der ‚Schaufensterkunst’, die in Tausenden von Exemplaren durch ganz Deutschland und weiter wandern, um Hemden, Kleider, Mäntel und Hüte zu tragen.“ (S. 35) Von Schaufenstern ist in der heutigen Seydelstraße nichts mehr zu sehen. Gespensterhaft sind vielmehr die Neubauten, die dort gerade auf den Brachen des ehemaligen Mauerstreifens aus dem Boden gestampft werden. Es kommt mir nicht so vor, als ob hier an die Geschäftigkeit von damals wieder angeknüpft werden soll. Die „Neue Mitte“ ist viel mehr das Schlachtfeld der Immobiliengeschäfte.

Zurück zu Hessel: Er läuft und fährt durch das „Gemisch von Großstadt und Gartenstadt“, erkundet den Kreuzberg, das Zeitungsviertel, flaniert von Neukölln nach Britz, durchkämmt die Hasenheide und die Friedrichstadt. Und stellt lakonisch fest, dass im Vergleich zu 100 Jahren vorher die Gegend um den Hackischen Markt „jetzt alles andre als märchenhaft“ ist (S. 190). Man wünschte sich sein Urteil zu dem heutigen Trubel dort …

Mit aller Selbstverständlichkeit eines Chronisten beschreibt Hessel das, was heute natürlich oft fehlt. Doch dann gibt es Passagen, in denen scheinbar das Berlin von heute durchschimmert, und man ist beruhigt, dass der Geist der Stadt und die Berliner Lebensart das Auf und Ab der Geschichte überstanden hat.

Franz Hessels Stimme aus den 20er Jahren des vergangenen Jahrhunderts stößt die Bewohner und Besucher der Hauptstadt auf ihre Schönheit, ihre Räudigkeit, ihr Können und ihr Versagen in der Gegenwart: „… wir wollen ein weinig Müßiggang und Genuß lernen und das Ding Berlin in seinem Neben- und Durcheinander von Kostbarem und Garstigem, Solidem und Unechtem, Komischem und Respektablem so lange anschauen, liebgewinnen und schön finden, bis es schön ist.“ (S. 221)

Franz Hessel: Spazieren in Berlin, Geleitwort: Stéphane Hessel, Nachwort: Bernd Witte, neu herausgegeben von Moritz Reininghaus, Berlin Verlag Taschenbuch, 2012, 240 Seiten, 9,99 Euro

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