Zum Heulen schön

Der Hund stammt vom Wolf ab. Mittlerweile läuft es beim gezähmten Haustier aber ganz anders als bei den wilden Verwandten, wortwörtlich. Sehr anschaulich erklärt Wolfsforscher Michał Figura die Unterschiede in wenigen Bildern: »Hunde schlagen Haken und wechseln öfter die Richtung.« Tatsächlich mäandern die Pfotenabdrücke mal in die eine, mal in die andere Richtung. »Wölfe hinterlassen schnurgerade Spuren, sie setzen Abdruck auf Abdruck. Sie schnüren«, erklärt der polnische Experte in dem furiosen Sachbuch Wölfe.

Der Untertitel Wahre Geschichten ist Programm. Die Comicautoren Alexandra Mizielińska und Daniel Mizieliński haben nichts erfunden, ihre naturalistischen Bilderstrecken beruhen auf Wildtierkamera- und anderen Aufnahmen. Wir begleiten Michal und seine Kolleginnen und Kollegen sowie Tierärztinnen, Naturschützer, Polizistinnen und Ehrenamtliche bei ihrer engagierten und oft sehr mühsamen Arbeit.

Rudel sind Familien

Erzählt werden die Geschichten von acht Wölfen, denen wir auf ihren hunderte, auch bis zu tausenden Kilometer langen Wanderungen folgen (aktuell wird gemeldet, dass ein Wolf von Niedersachsen 1200 Kilometer bis nach Katalonien gewandert ist ). Man erfährt alles über die faszinierenden und polarisierenden Tiere. Gleichzeitig wird faktenreich und klug mit falschen und gefährlichen Mythen aufgeräumt. So gibt es keinen einsamen Wolf. Und auch keine Alphatiere oder tödliche Machtkämpfe innerhalb eines Rudels. Rudel sind Familien, bestehend aus einem Elternpaar, das lebenslang zusammenbleibt, und bis zu zweijährigen Jungtieren. Die kümmern sich anfangs noch um jüngere Geschwister und Welpen, bevor sie ihre Familie verlassen, sich einen Partner oder eine Partnerin suchen und ein eigenes Revier, um ein Rudel zu gründen.

Der Mensch ist die größte Gefahr

Wölfe meiden Menschen, außer sie haben sich als Welpen an Menschen gewöhnt, dann können sie gefährlich werden. Anhand des Welpen Luna, der als vermeintlich ausgesetztes Hundebaby von Wanderern aufgelesen wurde, wird eindrücklich gezeigt, was passiert, wenn Wildtiere ihrer Umgebung und Familie entrissen werden.
Dass die Menschen nicht nur für Wölfe die größte Gefahr sind, zeigt sich am Schicksal Kampinos, der von einem Auto angefahren wurde. Oder von Jung, der nicht nur einmal in eine von Wilderern ausgelegte Schlinge geraten ist und elendig hätte krepieren können. Wie so viele andere, die nicht rechtzeitig gefunden werden.

Wildtierkameras und GPS Halsbänder

Umfassend und sehr gut verständlich werden auch die wichtigsten Werkzeuge der Wolfsforscherinnen und -forscher erklärt. Zum Beispiel wie eine Wildtierkamera funktioniert und dass bereits Ende des 19. Jahrhunderts erste Aufnahmen von Wildtieren mit solchen Apparaten gemacht wurden. Oder wie man komplexe und aufschlussreiche Daten mithilfe von GPS Halsbändern gewinnt. Und wie diese den Wölfen schonend angelegt werden, so dass, wenn alles gut läuft, über zwei Jahre zuverlässig Bewegungsdaten gesendet werden, aus denen sich viel ablesen lässt.
Wolfsforschung ist mitunter echte Detektivarbeit. Es bedeutet auch Nachtschichten, immer auf dem Sprung sein, stundenlange Autofahrten und Fußmärsche durch unwegsames Gelände. Es ist auch der Versuch, Menschen und Wildtiere miteinander auskommen zu lassen. So gibt es praktikable Methoden, um zu verhindern, dass Wölfe Nutztiere reißen.

Wissen Panel für Panel einprägsam vermittelt

Dieses exzellente Sachbuch vermittelt im perfekten Tempo, Schritt für Schritt, Bild für Bild, Panel für Panel alles Wissenswerte über Wölfe und illustriert es einprägsam. Es ist nur ein Beispiel, dass Comics längst nicht mehr nur Bildergeschichten mit Sprechblasen und onomatopoetischen Wörtern sind. Nicht nur billige Heftchen, von denen nur ganz wenige erhalten bleiben und nach Jahrzehnten für absurd viel Geld gehandelt werden.
Comics sind Erzählungen und Romane, Biografien, Fantasygeschichten, Kinder- und Erstlesebücher, aufwändig und hochwertig gestaltet. Die Form eignet sich auch hervorragend als Sachbuch von bleibendem Wert. Erstmals wurde dieses Jahr eine Graphic Novel in der Kategorie Belletristik für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert, Genossin Kuckuck von Anke Feuchtenberger. Nicht nur für Wölfe ist diese Wertschätzung zum Heulen schön.

Michał Figura, Alexandra Mizielińska, Daniel Mizieliński: Wölfe – Wahre Geschichten, Übersetzung: Marlena Breuer, Thomas Weiler, Moritz, 268 Seiten, ab 8 32 Euro

Der Geruch des Grolls

Naphtalin

Eigentlich freut ich es mich ja, wenn dich das mit Oma nicht so mitnimmt … so ähnlich wie ihr euch seid«, sagt Rocíos Mutter nach der Beerdigung ihrer Großmutter. Das bringt die Achtzehnjährige zu Beginn von Sole Oteros packender Familiengeschichte Naphtalin ins Grübeln: »Wir haben wirklich viel Zeit miteinander verbracht, da hätte ich gedacht, dass dein Tod mich viel trauriger macht. Ob das daran liegt, dass du kein guter Mensch warst? Warum wird man bloß so wie du? Was muss man erlebt haben?«

Zukunft ungewiss, Heldin in der Krise

Sole Oteros Graphic Novel beginnt in Argentinien im Jahr 2001, während einer schweren Wirtschaftskrise. Es sind unsichere Zeiten, Fabriken werden geschlossen und abgefackelt, Menschen verarmen, Viertel verkommen, die Zukunft ist ungewiss. Auch die junge Ro befindet sich einer Krise, als sie vorübergehend in das leerstehende Haus ihrer Großmutter Vilma zieht. Was möchte sie wirklich tun? Wie kann sie den Erwartungen ihrer Eltern gerecht werden? Wo will sie hin? Und wer sind ihre Freunde?
Nach und nach, beim Aufräumen erfährt die junge Frau mehr über Vilmas Leben. Allein in den verlassenen Zimmern setzt Ro Erzählungen, eigene Erinnerungen und Fotografien zusammen. Ro versucht zu verstehen, warum Vilma einsam und verbittert gestorben ist. Und was das mit ihr selbst zu tun hat.

Verflohte Katze

Die 1985 in Buenos Aires geborene Comickünstlerin erzählt in farbigen Panels, wie Vilma noch als Baby mit ihrem kleinen Bruder und ihren Eltern aus Italien nach Argentinien gekommen ist, wie sich die Familie ein neues Leben aufgebaut hat, wie Vilma geheiratet und zwei Söhne bekommen hat. Eingebettet ist ihre Geschichte in die Gegenwart, wo Ro mit sich, mit dem Haus und einer verflohten Katze hadert, die ihre Großmutter rätselhafterweise kurz vor ihrem Tod aufgenommen hat.

Großen Familienroman gezeichnet

Soleros Stil ist speziell und man braucht etwas, um mit den leicht unförmigen Figuren warm zu werden, die an Bilder des kolumbianischen Malers Fernando Botero erinnern. Doch schon bald wird man in die spannende und vielschichtige Erzählung hineingezogen. Naphtalin ist eine Graphic Novel im wahrsten Sinne, ein großer, bewegender Roman, der eine Familiengeschichte über mehrere Generationen zeichnet.
Vilma hatte Träume. Sie wollte lernen, studieren und Lehrerin werden. Doch sie hat für ihren Bruder zurückgesteckt, im Vertrauen, dass er sie eines Tages unterstützen wird. Von ihrer Mutter, die selbst in Argentinien nie heimisch geworden ist, fühlt sie sich nicht geliebt.
Sie wird enttäuscht. Versprechen werden gebrochen. Vilma fühlt sich zeitlebens immer wieder im Stich gelassen. Deshalb verschließt sie sich auch denen gegenüber, die sie lieben und brauchen.

Durch Türen aus dem Leben verschwunden

Je mehr man dem spröden Charme der zwei Erzählungsstränge erliegt, desto deutlicher erkennt man raffinierte Strukturen in Oteros Darstellungsstil: Immer wenn jemand aus Vilmas Leben verschwindet, verlässt die Person sie durch eine Tür, den Rücken zugewandt, während direkt auf der äußeren Seite, ihre Konturen bereits verblassen und verschwimmen. Vilmas Haus, sein Grundriss, ist ein weiterer Protagonist, wiederholt sieht man Rocío im wandelnden Verhältnis dazu. Früher erschienen ihr die Räume viel größer, jetzt wirkt sie deplatziert. Irgendwann wird sie dem Haus im Guten entwachsen. Eine zärtliche Rolle spielt auch die schwarze Katze, wie ein verbliebener Schatten, laut maunzend fordernd, doch auch zutraulich und anschmiegsam.

Eigene Fehler machen

Das namensgebende Naphtalin ist der Geruch von Mottenkugeln. Der Geruchssinn ist unser entwicklungsgeschichtlich ältester Sinn. Gerüche sind assoziiert mit Erinnerungen, die mit ihnen aus dem Unterbewusstsein kommen. Haus, Geruch, Fundstücke, Fotos, Katze werden von Sole Otero subtil verwoben. Ro versteht schließlich, warum ihre Großmutter zeitlebens Groll gehegt hat und keine Zuneigung zeigen konnte. Und sie weiß, dass sie diese über Generationen weitergereichte Anleitung zum Unglücklichsein durchbrechen muss und ihre Geschichte ändern kann. Oder wie ihr Vater am Ende beschwichtigend zur Mutter sagt: »Lass sie ihre eigenen Fehler machen und daraus lernen.«

Sole Otero: Naphtalin, Übersetzung: Lea Hübner, Handlettering: Sole Otero, Reprodukt, 336 Seiten, 29 Euro, ab 16

Bezaubernde Freundinnen

Schau mal, Hermine, mein neues Feenkostüm!«, begrüßt Margot ihre Freundin. Hermine ist hin und weg: Hellblaues Überkleid mit Puffärmeln und rosa Schleife überm Po, ein spitzer Hut und ein goldener Zauberstab mit einem Stern an der Spitze. »Wollen wir spielen, dass ich eine sehr mächtige Fee bin und alles Mögliche verwandeln kann?«
Los geht’s: »Simsalabim!« Und tatsächlich: Aus einem Stuhl wird ein Kürbis. Ein sehr gefräßiger Kürbis. Bevor Margot von der fleischfressenden Pflanze verschlungen wird, verzaubert sie das Biest in einen Kinderwagen. Aber was ist das für ein hässliches, kaputtes Monstrum?

Sehr französische Bilder

Wer hätte gedacht, dass so ein schönes Kostüm und so ein glänzender Zauberstab tatsächlich funktionieren … neija, zumindest ziemlichen Effekt haben? Der französische Kinderbuchautor und Illustrator André Bouchard hat sich diese wundervolle Geschichte vom Tag im Leben einer Fee ausgedacht und erzählt sie in hinreißenden und sehr französischen Bildern.

Klassische Metallstühle und träge Bulldoggen

Auf großen Doppelseiten mit viel Weißraum spielen die beiden ganz unterschiedlichen und gleich entzückenden Freundinnen in einem typischen Pariser Park, etwa dem Jardin du Luxembourg, mit breiten Wegen, Rasenflächen und den klassischen, schlichten Metallstühlen in gedecktem Grün. Vereinzelte, übergroße Erwachsene laufen achtlos im Vordergrund vorbei, wahlweise auf ihr Display starrend oder telefonierend, auch mal eine träge, dicke Bulldogge hinter sich herziehend.
Erst allmählich merken die Großen, was da bei den kleinen Mädchen abgeht. Aus ein paar Tauben werden keine Prinzen, wie von Margot gedacht, sondern scheußliche Trolle. Die wiederum ganz begeistert mit dem ollen Kinderwagen herumtoben, hinter den panisch fliehenden Parkbesuchern her.

Bedröppelt, klein und grün

Hermine ist begeistert und lacht sich kaputt über Margots verunglückte Zauberkünste. Da wird Margot richtig sauer: »Na schön, dann pass mal gut auf! Ich verwandle dich jetzt in eine Kröte! Das wird dir eine Lehre sein! Simsalabim!«
»Quak!« Auweia, Hermine ist tatsächlich in eine Kröte verwandelt, bedröppelt, klein und grün hockt sie vor der von ihrer Magie erschrockenen Margot. Herzzerreißend. Während die Trolle im Hintergrund einen verängstigten Jogger über den Rasen jagen.
Natürlich tut Margot es sofort total leid. Doch es ist wie verhext. Sie kann Hermine nicht mehr zurückverwandeln. Wie soll sie das nur deren Eltern erklären?

Kröte auf dem Schoß

Das nächste Bild ist das schönste des ganzen Buchs und bereits ausschnittsweise auf dem Titel zu sehen: Margot und Hermine gemeinsam im Bus, Hermine auf Margots Schoß, beide sich sehr zerknirscht anblickend. Um sie herum lauter Erwachsene, entweder auf das Mädchen mit der Kröte starrend, empört, neugierig, amüsiert oder angewidert. Oder ins Telefon vertieft und von dem Drama keine Notiz nehmend. Alle Erwachsenen ähneln Karikaturen, leicht grotesk und insgesamt ziemlich gräulich.
Bouchards Bilder wirken wie Radierungen, schwarz-weiße Strafuren, fein gestrichelte Texturen, Bäume, Flächen und zart ziselierte Häuserfassaden. Darauf setzt er vereinzelte Farbakzente für Kinder und Fabelwesen. Nicht nur stilistisch erinnert es an Sempé, der mit leisem Humor und feinem Strich die liebenswerten Macken großer und kleiner Leute zeigt. Formidabel übersetzt ist dieser wandlungsreiche Tag von Andreas Illmann, eloquent, zeitlos und sehr amüsant.
Ein Tag im Leben einer Fee erzählt von zwei wenig feenhaften, dafür umso bezaubernderen Freundinnen.

André Bouchard: Ein Tag im Leben einer Fee, Übersetzung: Andreas Illmann, Schaltzeit Verlag, 40 Seiten, ab 4, 15 Euro

Unbezahlbar

Eifersucht

Man kennt die die Kisten mit der Aufschrift »Zu verschenken«, die vor allem in Großstädten an den Straßen stehen. Darin findet sich manchmal Nützliches, häufig aussortierte Bücher, auch hübscher Kleinkram, oder einfach nur Müll.
Ein Karton mit der Aufschrift Kind zu verschenken! ist allerdings außergewöhnlich. Wie auch das gleichnamige Kinderbuch von Hiroshi Ito. Das kleine Mädchen darin sucht eine neue Familie. Sie hat die Nase voll: »Vor drei Monaten habe ich einen kleinen Bruder bekommen. Er sah aus wie ein Äffchen. Wenn er nicht schrie, wurde er gestillt oder kackte. Er war kein bisschen niedlich.«

»Ich suche mir ein neues Zuhause« »Ja ja«

Trotzdem kümmert sich ihre Mutter nur um das Baby. Und überhaupt nicht um ihre Tochter. Also zieht das vernachlässigte, zornige Mädchen Konsequenzen: »Du brauchst mich wohl nicht mehr, Mama, oder?« »Ich haue ab, ich suche mir ein neues Zuhause!« Als auch auf diese Drohung nur ein geistesabwesendes »Ja, ja,« kommt, macht die Kleine ernst und sich auf in ein neues Leben.
Sie findet einen leeren Pappkarton, schreibt in ihrer schönsten Schrift Kind zu verschenken drauf, wartet und träumt von einer neuen Familie. Einer mit großem Haus und Garten und Pool. Einer, in der sie das einzige Kind ist und mit Eltern, die nur sie liebhaben.

Minimalistisch und vielsagend

Diese Mischung aus Comic und Erstlesebuch ist eine entzückende Geschichte über ein Gefühl, das jedes Kind mit Geschwistern kennt, die Eifersucht. Die Zeichnungen in Schwarz-Weiß, mit nur wenigen roten Akzenten für die Wangen oder einer Schleife auf dem Kopf, sind minimalistisch und doch sehr vielsagend. Das Mädchen kann richtig böse gucken, ihre Wut und Enttäuschung ist offensichtlich. Ebenso ihre Stärke und ihr Eigensinn.
Auch sprachlich ist es so puristisch wie ausdrucksstark. »Jetzt reichte es mir. In diesem Affenhaus wollte ich keine Minute länger bleiben«, sagt sie. Und brummelt »Pff, Mama ist pupsgemein.« Ursula Gräfe hat das Abenteuer pointiert und urkomisch übersetzt. Und genial und sehr witzig wird der Konflikt zum Schluss zum Schluss gelöst.

Ein Äffchen. Aber süß

Dazwischen rappelt es aber noch ordentlich im Karton, wenn es zur Variante der Bremer Stadtmusikanten wird. Ein verlaufender Hund, eine streunende Katze und eine ausgesetzte Schildkröte gesellen sich auf der Suche nach einem neuen Zuhause dazu. So kann Eifersucht richtig Spaß machen. Und manchmal ist ein kleiner Bruder wirklich ein Äffchen. Aber süß.

Jüngere Geschwister haben es auf der anderen Seite aber auch nicht immer leicht: »Angefangen hat alles mit dem Straßentrödel. Einfach mal das alte Spielzeug rausgestellt  und ein bisschen Geld verdient. Da haben wir, ganz aus Versehen, unsere kleine Schwester verkauft.« Geld gewonnen und nebenher noch eine kleine Nervensäge losgeworden. Klassische Win-Win-Situation. Nur die Eltern sind sauer. »Meine Mama war ziemlich wütend und Papa hat geweint«, erzählt die geschäftstüchtige und überhaupt nicht zerknirschte Tochter. Der Vater schluchzt: «Die war doch ganz neu!«

Famose Kapitalismus Satire

Macht nix, kann man sich ja eine neue, höfliche und adrette gegenüber kaufen, inklusive einem Koffer mit Wintersachen. »Allerdings war sie nicht ganz billig. Deshalb mussten wir Oma verkaufen.« Die ist zwar kein scheckheftgepflegter Oldtimer und hat viele Gebrauchsspuren, geht aber an einen Liebhaber zum Liebhaberpreis weg.
Und so wird munter die ganze Familie inklusive Katze versilbert, in Zahlung gegeben, im Internet angepriesen, nach dem Motto »Alles muss raus«. Nur die Mutter ist zu ramponiert und taugt nur noch für Bastler.
Was als Flohmarktgeschichte beginnt, entwickelt sich zu einer famosen Kapitalismus-Satire, verpackt in einem witzigem Kindercomic. Als die gewiefte Göre erstmal auf den Geschmack des Geldes kommt, gibt’s zunächst kein Halten. Doch wenn alle Fast Food bestellt und auf dem Tablet alles durchgeglotzt ist, kann es auch ziemlich einsam werden. Also beschießt unsere übersättigte Erzählerin: »Ich glaub, ich geh einkaufen!«
Was sie bei ihrer neuen Shoppingtour erwirbt, ist sehr überraschend und eine weitere tolle Lektion der freien Marktwirtschaft … und wird hier natürlich nicht verraten.

»Can’t buy me love«

Zu Martin Baltscheits herrlich schnoddrigem Ton passen Thomas Wellmanns karikatureske Illustrationen perfekt. Die originellen Familienmitglieder werden charmant frotzelnd charakterisiert. Die Verlockungen des Reichtums in knallig überladenen Bildern ausgemalt. Und das Besondere von Familienbanden, nicht nur der eigenen Kleinfamilie, bunt und vielfältig gefeiert.
»Can’t buy me love«, sangen schon die Beatles (was man Kindern nicht früh genug vorspielen kann). Wir lernen: Mit Geld kann man nicht kuscheln, und verrückte Gutenachtgeschichten wie Oma zu verkaufen liest es auch nicht vor.

Hiroshi Ito: Kind zu verschenken, Übersetzung: Ursula Gräfe, Moritz Verlag, 120 Seiten, ab 6, 14 Euro

Martin Baltscheit, : Oma zu verkaufen, Illustrator: Thomas Wellmann, Kibitz, 32 Seiten, ab 6, 15 Euro

Unendliche Welten

Telegraph

Pulp Fiction als Erweckungserlebnis: »Auf dem Einband waren gleich zwei Frauen abgebildet, eine Blondine und eine Brünette. Die Blonde trug ein pinkes Negligé und kniete schüchtern auf dem Boden, mit niedergeschlagenen Augen, während hinter ihr die wohlgeformte Brünette aufragte. Das Buch hieß ›Sonderbare Zeiten‹ und der dazugehörige Slogan lautete: ›Den widernatürlichen Neigungen ihres Herzens konnte sie nicht entkommen‹.
Aufregung fuhr wie ein Stromstoß durch Lily.« Als die Siebzehnjährige den Schundroman bei den billigen Taschenbüchern hinten im Drugstore entdeckt, erkennt sie, dass sie für ihre Mitschülerin Kathleen mehr empfindet als nur Sympathie. Und ihr ist klar, dass das verboten, gegen die Regeln und undenkbar ist.

Faible für Frauen ist unmöglich

Von ihr als ordentlichem Mädchen aus Chinatown in San Francisco Anfang der 1950er Jahre wird erwartet, dass sie amerikanischer ist als junge weiße Mädchen: ausgezeichnete Schülerin, was Anständiges studieren, heiraten, Hausfrau und Mutter von ebenso folgsamen Kindern werden. Mag ihr Interesse für Raumfahrt und der Wunsch, zum Mond zu fliegen, noch als vorübergehende jugendliche Spinnerei durchgehen. Ein Faible für Frauen ist absolut unmöglich.

Anpassung an das weiße Amerika

Als aus China stammende Amerikanerin haben es sie und ihre Familie, ihr Vater ist Arzt, ihre Mutter Krankenschwester, schwer. Antikommunistische Hetze stellt alle Asiaten unter Generalverdacht. Und so genau wird auch nicht unterschieden, der Zweite Weltkrieg ist noch nicht lange her, damals war China zwar mit den USA verbündet, aber Japaner waren Feinde. Und innerhalb der chinesischen Community gelten strenge Konventionen, Anpassung an den Mainstream ist das oberste Gebot.
Lily und Kathleen, genannt Kath genannt, freunden sich an. Und mehr als das, Kath nimmt Lily mit in einen Club namens Telegraph Club. Dort tritt auch die Herrenimitatorin Tommy Andrews auf. Lily ist fasziniert, für sie tun sich nicht nur im Weltraum unendliche Welten auf.

Leben zwischen zwei Welten

Malinda Lo erzählt in Last Night at the Telegraph Club spannernd und vielschichtig von San Francisco in den 1950er Jahren. Von den Menschen in der chinesischen Community, schillernd und exotisch, angepasst und ambitioniert, Leben zwischen zwei Gesellschaften.
Lo taucht ein in Bars und Treffpunkte der lesbischen Szene, man begegnet sich männlich gebenden Butches und femininen Femmes. Beklemmend wird die aufgeheizte politische Paranoia beschrieben. Und natürlich erzählt der Roman auch vom Coming out eines jungen Mädchens, das gegen viele Vorurteile kämpfen muss. Sogar in der lesbischen Szene, wo eine Asiatin doch sehr exotisch ist.

Privates und historisches verknüpft

Der Roman ist sehr gut recherchiert und absolut stimmig. Zwischendurch wechselt er auch die Perspektive und Zeit, erzählt aus der Sicht ihrer Eltern, kurz nachdem sie China verlassen und sich in den USA kennenlernen. Oder aus der Sicht ihrer Tante, einer Mathematikerin, die in einem Raumfahrtprojekt arbeitet. Private und historische Ereignisse werden auf einem Zeitstrahl angeordnet und miteinander verknüpft.

Zeitgeschichtliches Tableau

Last Night at the Telegraph Club ist mittlerweile unter jungen Menschen ein Bestseller. Zurecht, ist der Roman doch über die queere Thematik hinweg ein brillantes zeitgeschichtliches Tableau. Nur die wenigen erotisch angehauchten Petting Passagen fallen dagegen ab. Die monotone und einfallslose Wiederholung von »pochendem Herz«, »schmerzhaftes Ziehen im Unterleib« oder »weiblichen Kurven« rührt wahrscheinlich weniger daher, dass Lily die Worte für ihre neuen Empfindungen fehlen. Es ist eher ein Zeichen der Sprachlosigkeit angesichts von Sex und Körperlichkeit in der amerikanischen Literatur. Da kann auch die sensible Übersetzerin Beate Schäfer nichts dran ändern.

Last Night at the Telegraph Club feiert die kulturelle, sexuelle und geistige Vielfalt, ein mitreißender und funkelnder Roman.

Malinda Lo: Last Night at the Telegraph Club, Übersetzung: Beate Schäfer, DTV, 445 Seiten, ab 14, 19 Euro

Unter Wölfen

Wolfspelz

Vor kurzem ging es hier um einen Baum. Sid Sharp führt uns jetzt inmitten ganz vieler Bäume in den Wald. Dort wachsen nämlich die vom Schaf Bellwidder Rückwelzer heißgeliebten Brombeeren.

Leider lauern im Wald auch hungrige Wölfe, die scharf auf Schaf sind. Also braucht Bellwidder eine sehr gute Tarnung und kommt auf die raffinierte Idee, das Bild vom Wolf im Schafspelz umzukehren: Er schneidert sich einen Wolfspelz.

Wolf im Schafspelz reverse

Das Kostüm hat zwar ein paar Nachteile: Mit seinen unter spitzen Attrappen eingeklappten Ohren kann er das Vogelgezwitscher nicht hören. Und durch die aus Lehm modellierte Nase kann er den Duft der Blumen nicht mehr riechen. Dafür kann er Brombeeren essen und wird nicht selbst gefressen.

Sid Sharp zeigt Bellwidder in Der Wolfspelz gleich zu Anfang in klaren Panels als einen glücklichen Schafsbock, der sich sehr wohl in seiner Haut fühlt. Er mag sein liebes Gesicht, seine schlappen Ohren, die paarigen Hufe und langen Wimpern, seine weiche Wolle und den Puschelschwanz. In seinem Haus am Waldrand – hinter geschlossenen Vorhängen – tanzt er und fühlt sich sicher.

Bedrohlich buntes Schwarz

In der außergewöhnlichen Mischung aus Graphic Novel und Bilderbuch dominiert schwarz als Hintergrund. Davor heben sich freundliche und farbige Details umso lebendiger hervor, zum Beispiel das blumige Tapetenmuster in Bellwidders Haus oder die üppige Vegetation des Waldes. Das flächige Schwarz steht auch für düstere Gedanken und Bellwidders Wut, dass er nicht einfach so, wie er ist, in den Wald gehen kann, die Welt außerhalb seines Hauses. Und es wirkt auch ganz schön unheimlich und macht die dunkle Gefahr fühlbar.

Als Bellwidder in seinem Wolfspelz tatsächlich drei Wölfen über den Weg läuft, wird es zappenduster. Er gibt sich besonders böse und behauptet schon hunderte Schafe gefressen zu haben. Aber bei seinem Kostüm lösen sich die Nähte, der Wolfspelz beginnt zu reißen und Bellwidders wahre Natur kommt zum Vorschein. Als er sicher ist, dass er gleich gefressen wird, kommt alles ganz anders …

Unter Druck

Raffiniert, in schön spröden und in absolut nicht niedlichen Bildern zeigt Sid Sharpe, unter welchem Druck man steht, wenn man sich verleugnen und gegen sein wahres Ich handeln muss. Wenn man eine Rolle spielt, die nicht zu einem passt. Wenn man glaubt, niemandem trauen zu können. Dazu reichen ihr wenige Worte in Sprechblasen, kurze prägnante Mono- und Dialoge.

Umso vielsagender sind die Farben, die scharfen Konturen und die mysteriös belebte Umwelt. Immer wieder blitzen Augenpaare aus dem Unterholz und dem Dunkeln hervor. Sid Sharpes überraschende Umkehr vom Wolf im Schafspelz ist ein kluges und subtiles Plädoyer gegen Vorurteile und für Vielfalt.

Sid Sharp: Der Wolfspelz, Übersetzung: Alexandra Rak, NordSüd, 136 Seiten, ab 6, 22 Euro

Gegen das Tabu

Suizid

Nach langer Zeit habe ich – der Buchmesse und den anregenden Kontakten dort sei Dank – mal wieder ein richtig gutes und vor allem wichtiges Jugendbuch gelesen. Im Roman Alle Farben Grau erzählt Martin Schäuble von Paul.

Der 16-Jährige ist ein ganz besonderer Typ: Er hält Vorträge über Bowie, liebt Mangas und Japan, lernt dementsprechend Japanisch und Aikido, er zockt wie seine Altersgenossen Computerspiele und wächst in einem behüteten Heim mit zwei Schwestern auf. Alles perfekt, könnte man meinen.

Die Leserschaft lernt Paul über die Ich-Erzählungen verschiedener Figuren kennen: Da sind Alina, das Mädchen aus der Akutstation der Jugendpsychiatrie, Lien, seine chinesische Mitbewohnerin im Internat, sein bester Freund Noah oder Riku, der Japanisch-Lehrer. Auch seine Familie erzählt von Paul – nachdem er sich das Leben genommen hat.

Nach einer wahren Geschichte

Dieses Buch, das nach einer wahren Geschichte entstanden ist, dreht sich um den Suizid eines psychisch erkrankten Jugendlichen und ist somit kein leichter Stoff. Reflexartig denkt man zunächst: »Muss das sein? Ist das nicht etwas zu viel? Regt es womöglich zur Nachahmung an?«
Nein, tut es nicht. Aber ja, es ist viel. Ja, es ist traurig. Und ja, es muss sein.

Denn gerade in Zeiten, in denen Jugendliche immer noch mit den Nachwirkungen der Pandemie zu tun haben und die Weltlage eh nicht zum Besten steht, müssen wir auch in Bezug auf psychische Gesundheit genau hinsehen, wie es um die Menschen um uns herum steht. Denn nicht immer ist es ihnen – jungen wie alten – anzumerken, ob es ihnen schlecht geht. Das Sprechen über psychische Erkrankungen wird dabei zu einem Schlüssel, der in unserer Gesellschaft viel zu wenig genutzt wird. Denn noch immer kommt es einer Stigmatisierung gleich, wenn man öffentlich zugibt, psychisch krank zu sein.

Unerkannte psychische Erkrankung

Pauls depressive Erkrankung wird lange nicht erkannt, auch weil bei ihm zu spät festgestellt wird, dass er das Asperger-Syndrom hat. Er nimmt die Welt also generell anders wahr, leidet dadurch aber noch stärker an seiner Umwelt und unter der Depression. So verkriecht er sich im Internat schon mal im Schrank, um zumindest dem nervigen Mitbewohner zu entgehen. Seiner eigenen inneren Stimme, die ihn ständig fertig macht, entkommt er leider nicht.

Die verschiedenen, nicht zeitlich geordneten Perspektiven – zu denen auch Pauls eigene Ich-Erzählung gehört – bilden die unterschiedlichsten Puzzleteile zu einem Menschen, der sich nach und nach den Lesenden offenbart. Dabei wird deutlich, wie wenig Außenstehende vom anderen, also von Paul wissen, ja, wissen können, und wie er im Gegenzug seine Umgebung und sich selbst wahrnimmt. Dass dabei enorme Lücken klaffen, ist so normal wie erschreckend.

Feinfühlig und offen

Martin Schäuble gelingt das große Kunststück, offen und feinfühlig über das heikle und tabuisierte Thema Suizid zu schreiben (wie Paul sich das Leben nimmt, wird nicht geschildert, denn das ist überhaupt nicht notwendig). Der Autor moralisiert nicht, er macht auch keine Hoffnungen was Paul angeht, er klagt nicht an. Die Eltern, die quasi wie in einem Interview von Paul berichten, machen sich selbst schon genug Vorwürfe. Es gib in diesem Fall keine Lösung, kein Happy End, nur ein Weiterleben für die, die zurückbleiben. Und das Sprechen mit all denen, die ebenso einen Verlust erlitten haben – das haben sich Pauls Eltern seit dem auf die Fahnen geschrieben.

Und dennoch gibt es bei allem Traurigen, das in diesen Seiten steckt, diesen Funken Hoffnung, dass sich möglicherweise für Lesende, die mit diesem Gedanken spielen, etwas ändern könnte, wenn sie nur die Kraft aufbringen, über ihre Seelenqualen und ihre selbstzerstörerischen Absichten zu sprechen. Die wichtigen Hinweise, wo Betroffene Hilfen und Gesprächsangebote finden, sind vor und nach der Geschichte aufgeführt, doch es ist im besten Fall Paul selbst, dieser eindrückliche Junge, der andere animieren könnte, sich solche Hilfe auch zu suchen.

Martin Schäuble: Alle Farben grau, Fischer Verlag, 2023, ab 14, 15 Euro

Zum Anbeißen

Apfelbaum

Wann hat der Apfel eigentlich seine Unschuld verloren? Die meisten würden spontan antworten, mit dem Alten Testament und der Vertreibung von Adam und Eva aus dem Paradies. Und natürlich war die Frau an allem schuld. Anderes Thema …
Tatsächlich ist der Apfel in der Neuzeit zum Problem geworden, weil mittlerweile so viele Menschen allergisch auf ihn reagieren. Was sehr schade ist, da Äpfel ein preiswertes, bestenfalls nahezu klimaneutrales und ebenso einfach wie vielfältig zu konsumierendes Superfood sind, denn sie enthalten Vitamine, Mineralien, Ballaststoffe und Antioxidantien.

Leises Rauschen in der Rinde

Das große Buch vom Apfelbaum hat so profane Gesundheitswerte nicht nötig, um für das Obst und seinen besonderen Mikrokosmos zu begeistern. Der Biologe Holger Haag beginnt mit der Schönheit: »Im Frühling erstrahlt der Apfelbaum in einem Meer aus rosaweißen Blüten.« Aber der Baum wird natürlich nicht einfach so »wach geküsst«, wie es in einer Kapitel-Überschrift poetisch heißt. »Die Tage werden länger, die Temperaturen steigen. Der Baum kann wieder Wasser und Nährsalze aus der Erde aufnehmen, weil der Boden nicht mehr gefroren ist«. Und weiter: »Wenn du dein Ohr ganz dicht an den Stamm hältst, hörst Du mit ein bisschen Glück das leise Rauschen in der Rinde.«

En passant Interessantes lernen

Elegant und mühelos leitet Haag von den sinnlichen Eindrücken über zur Wissenschaft. »Es gibt zwei verschiedene Leitungsbahnen: Im sogenannten Xylem findet der Wassertransport von der Wurzel bis in die Baumspitze statt. Im Phloem dagegen gelangen wichtige Nährstoff wie Zucker und Eiweiße von den Stellen, wo sie hergestellt werden, dorthin, wo sie gebraucht werden, also zum Beispiel von den Blättern zu den Früchten.« Da hat man auf der ersten Seite schon en passant etwas sehr Interessantes gelernt.

Vögel auf Daunenlänge und Felle zum Streicheln

Lars Baus malt dazu wunderschöne naturalistische Bilder. Man kann die Struktur der zarten Blütenblätter und der rauen Rinde des Stamms geradezu fühlen. Auch die zahlreichen Lebewesen, die von, auf und mit dem Baum leben: Vögeln wie Feldsperlingen, Neuntötern oder Seidenschwänze kommt man auf Daunenlänge, bis zu den fluffigen Federn, nah. Bei Eichhörnchen, Rotfuchs und Gelbhalsmaus möchte man das feine Fell streicheln.

Die Rehabilitation der Ohrenkneifer

Zum Anbeißen ist auch im Kapitel Herbst die Doppelseite mit acht Apfelsorten. Holger Haag erklärt dazu viel Spannendes und Wissenswertes mit wenigen präzisen Worten. Wie aus der bestäubten Blüte schließlich ein Apfel wird. Woraus das Kerngehäuse entsteht. Das Besondere einer Obstwiese. Welche Insekten dem Apfelbaum nutzen. Und welche ihm schaden.
In dem Zusammenhang wird ein »kleines Tier mit schlechtem Ruf« mehr als rehabilitiert: Der Ohrenkneifer. Der interessiert sich nämlich überhaupt nicht für Ohren. Tatsächlich vertilgt das Insekt liebend gern Blattläuse, Gespinstmotten und die Larven des Apfelwicklers. Dazu gibt es noch einen einfachen Basteltipp, mit dem man diese Nützlinge anlocken und am Baum heimisch werden lassen kann.

Auch für Allergiker ein Genuss

Abgerundet wird Das große Buch vom Apfelbaum mit einem zweiseitigen Glossar und einem Register der Tiernamen. Ein Bilderbuch von einem Sachbuch, bildschön in Illustration und Text. Es macht die faszinierenden Früchte und alles drumherum zum Genuss – auch für Allergiker.

Holger Haag (Text), Lars Baus (Illustrationen): Das große Buch vom Apfelbaum, Coppenrath, 56 Seiten, ab 5, 22 Euro

40.000 Kilometer durch das Meer

Meeresschildkröte

Die ersten Schritte einer Meeresschildkröte sind die gefährlichsten. Der erste Strandspaziergang der frisch geschlüpften Reptilien kann auch ihr letzter sein. Doch wenn sie die ersten 24 Stunden nicht gefressen werden und die Brandung erreichen, können sie 80 Jahre alt werden.

Klein, kraftlos, mit Delle

Die kleine, sogenannte Unechte Karettschildkröte oder Caretta caretta, die japanische Fischer 1997 in den Wellen fanden, hatte es zwar lebend bis ins Meer geschafft. Aber sie war klein, kraftlos und hatte eine Delle im Panzer. Die Männer gaben ihr Fisch und den Namen Yoshitaro und brachten sie ins Aquarium in Kapstadt.

Der Ruf des Meeres

20 Jahre später ist Yoshi ein ziemlicher Oschi, von zwei auf 183 Kilogramm angewachsen und 107 Zentimeter lang. Und Yoshi hört den Ruf des Meeres. Das entspricht dem natürlichen Lebensrhythmus von Meeresschildkröten – dorthin zurückzukehren, wo sie geschlüpft sind. Yoshi und das Meer ist die unglaubliche und doch wahre Reise einer Meeresschildkröte, von der die Meeresbiologin und Künstlerin Lindsay Moore faszinierend erzählt.

Trainiert und mit Peilsender versehen

Die ersten zwei Jahrzehnte im Aquarium sind schnell und prägnant dargestellt. Bevor Yoshi tatsächlich ausgewildert wird, versuchen die Menschen sie auf das Leben und die Gefahren im Meer vorzubereiten. »Was ist mit Tigerhaien und Zusammenstößen mit Schiffen? Was ist mit treibendem Plastik und Fischernetzen?« Plastiktüten, die für Quallen und Futter gehalten werden, und Netze sind tatsächlich die größten Bedrohungen. »Yoshi dreht ihre Runden und frisst mehr als sonst. Sie trainiert für den Heimweg.« Kurz bevor Yoshi in die Freiheit entlassen wird, wird ihr noch ein Peilsender auf den Panzer geklebt.

23.167 Funksignale

Und so weiß man, dass diese Meeresschildkröte 40.000 Kilometer durchs Meer geschwommen ist, mit einem Ziel, das bis zur Ankunft nur sie kannte. Lindsay Moore zeigt diese Reise in hinreißenden und atemberaubenden Doppelseiten. Yoshi schwimmt durch türkisgrüne Weiten und mitternachtsblaue Tiefen. Sie schwimmt an der Seite von Delphinen, Kugelfischen, Robben und Walen, vorbei an Korallen und Quallen, futtert Garnelen und Schnecken. Und zwischendurch kommt sie immer wieder an die Oberfläche und sendet ein Signal: Grüße von Yoshi. 23.167 Funksignale schickt sie in 982 Tagen.

Prägnant und poetisch erzählt

Moore erzählt anschaulich, in wenigen prägnanten, auch poetischen Worten. Ihre fantastischen Bilder orientieren sich an tatsächlichen Gegebenheiten wie den Unterwasserlandschaften, bekannten nahrungsreichen und auch gefährlichen Gründen, Gegenden, wo besonders viele Fischereiboote unterwegs sind, mit Schleppnetzen, Leinen und Haken. Yoshi ist eine freie Schildkröte.

Schlau, mutig, entschlossen

»Das ist Yoshi, die Meeresnomadin.« »Das ist Yoshi, die schlaue Schildkröte.« … die mutige Schildkröte, die entschlossene. So beginnen die meisten Doppelseiten. Und es passt, es ist wirklich sehr beeindruckend, wie die Meeresschildkröte die unfassbar lange Reise beharrlich fortsetzt, eins wird mit den Strömungen, Tälern, Bergen, Plateaus und alle Hindernisse bewältigt. Johanna Ruhl hat dieses wunderbare Reisebuch einfühlsam und kitschfrei übersetzt.

Hohe Sachbuchkunst

Zum Schluss gibt es noch einen hervorragenden Sachbuchteil. Pointiert und präzise werden Unechte Karettschildkröten vorgesellt, ihre perfekt ans Leben im Meer angepasste Anatomie und ihr Lebenszyklus, zu der auch diese unglaubliche Reise gehört. Moore zeigt auch die komplexe Unterwassergeographie und welchen Einfluss diese auf Flora, Fauna und Nahrung für die Meeresbewohner hat. Und welche Gefahren von Plastik in den Ozeanen ausgeht. Die amerikanische Autorin illustriert diese wesentlichen Informationen auch optisch eingängig. Das ist nicht nur hohe Bilderbuchkunst, sondern auch das ideale Sachbuch für jedes Alter – klug, wissenwert, wunderschön und berührend.

Lindsay Moore (Text und Illustrationen): Yoshi und das Meer – Die unglaubliche Reise einer Meeresschildkröte, Übersetzung: Johanna Ruhl, CalmeMara Verlag, 64 Seiten, ab 5, 25 Euro

Zeit ist relativ

Zeit ist entscheidend, Zeit ist das wesentliche Element der Interpretation. Ich starte die Uhr. Jedoch bleibt anders als die Uhr meine zweite Hand manchmal stehen, das heißt, die Zeit bleibt stehen. Erst wenn ich mich entscheide, die Hand zu heben, hat die Zeit die Erlaubnis fortzufahren in ihrem leichten, heiteren Lauf«, sagt Cate Blanchett als Tár im gleichnamigen Film über den tiefen Fall einer Stardirigentin. Es ist auch die Vermessenheit, über die Zeit bestimmen zu können, die zum ihrem Absturz führt.

Das Wesen der Zeit ist Interpretation

Einen viel spielerischen, ja leichten, heiteren Umgang mit dem Phänomen der Zeit hat das entzückende Bilderbuch Zeit ist eine Blume der Kanadierin Julie Morstad. Mit bunten Zeichnungen voller Witz und Verstand zeigt die Illustratorin, dass umgekehrt das Wesen der Zeit Interpretation ist: Mal scheint sie schier endlos gedehnt und zäh wie eingetrockneter Sirup. Dann wieder verfliegt sie viel zu schnell, zerrinnt und ist nicht greifbar wie einzelne Schneeflocken oder am Himmel dahintreibende Wolken.

Manchmal ist sie so schön, dass man sie anhalten möchte

Mal bewegt sie sich im Kreis und man steckt in einer Zeitschleife, in bekannten Mustern, endlosen Wiederholungen und Déjà vus. Die Zeit rast oder schleicht. Sie fehlt, wenn man verspätet zum Bahnhof hetzt und der Zug pünktlich abfährt. Oder die Schicht beginnt. Oder die Arbeit fristgerecht abgeliefert werden muss. Dann hat man viel zu viel Zeit, wenn das Flugzeug nicht startet oder wenn man im Wartezimmer hockt und kein gutes Buch dabeihat. Die Zeit hat Risse und Lücken. Und manchmal ist sie so schön, dass man sie tatsächlich anhalten möchte.

Der Kiesel war einmal ein Berg

Morstad macht in ihren Zeichnungen und Collagen Zeit aufs Allerschönste sichtbar. Wie aus einem Samen eine Blume wird. Und diese Blume verwelkt und ihre Blätter verliert. Wie ein Baum wächst und immer größer wird und irgendwann den kleinen Menschen, der ihn gepflanzt hat, um Längen überragt. Ein kleiner Kiesel, der einmal ein riesiger Berg war. Haare, die langsam lang werden und mit einem schnellen Schnippschnapp fällt die gewachsene Zeit ab.

Fühlbar gemacht

Farblich konzentrieren sich die klaren Illustrationen auf ein samtiges Fuchsiarot oder warmes  Brombeerrosa, dazu gedeckte Grünvarianten, ein paar Erdtöne, etwas Orange. Morstads Bilder machen die Zeit auch fühlbar. Ein über Nacht perfekt gewebtes Spinnennetz ist kaum sichtbar, doch sein filigranes Muster ist in zarten, weißen Linien auf das weiße Papier aufgetragen. Auch der Einband fühlt sich pfirsichhautweich an.
Julie Morstad ist eine hinreißende Reflexion über das Wesen der Zeit in allen Spielarten gelungen.

Zeit lässt sich auch der Troll im neuen Buch von Mac Barnett und Jon Klassen. Aber nicht aus Gelassenheit, sondern blanker Gier. Drei Ziegenböcke namens Zack können ihn deshalb sehr raffiniert austricksen. »Der Troll saß im Schlamm, dem Schutt und dem Müll, lauschte und wartete und hoffte, jemand werde die Brücke überqueren.« Der Troll ist echt ne fiese Möpp, fast könnte er einem leid tun, in all diesem ekligem Dreck. Und tatsächlich kommt ein kleiner Ziegenbock daher. Gerade als der Troll seine Zähne in das niedliche Tier schlagen will, verrät dieses ihm ein Geheimnis: »Bald kommt mein großer Bruder hier vorbei und der ist viel dicker als ich und schmeckt auch besser.«

Geschichte über die Gier nach immer mehr

Tatsächlich lässt der Troll den kleinen Zack laufen. Und auch den zweiten Ziegenbock mit Namen Zack. Weil der ihm wiederrum den noch größeren Bruder schmackhaft macht. Mac Barnett erzählt eine norwegische Sage neu, als moderne Geschichte über Gier und die Sucht nach immer größeren Happen. Dabei ist die so geschickt von den schlauen Ziegen ausgenutzte Schwäche des Trolls eher ungewöhnlich: Nicht nur kleine Kinder, auch die meisten Erwachsenen nehmen lieber sofort, was sie kriegen können, anstatt sich auf größere Summen oder mehr Schokolade zu gedulden, wie man aus Versuchen weiß. Sprichwörtlich lieber der Spatz in der Hand als die Taube auf dem Dach.

Eigentlich schön, nur manchmal ist ein Troll im Weg

Mit feinem felligem Strich und viel Spaß an schmutzigen Details hat Jon Klassen die kluge Fabel in Szene gesetzt. Aus den für den kanadischen Illustrator typischen nur aus einem flachen, weißen Oval mit schwarzer Pupille bestehenden Augen blitzt mal der schlaue Schalk und die vermeintliche Arglosigkeit, mal blicken sie hinterlistig und schließlich echt verblüfft.
Klassens Vorliebe für Brauntöne und Schwarz passt zum schmuddeligem Ambiente und dem ollen Gierschlund. Darüber zeichnet sich aber am Himmel ein ganz zartes Rosa und Hellblau ab. Eigentlich ist die Welt ganz schön und die Wiesen saftig. Nur manchmal ist ein Troll im Weg.

Julie Morstad: Zeit ist eine Blume, Übersetzung: Kathrin Bögelsack, Bohem, 56 Seiten, 24 Euro, ab 4

Mac Barnett, Jon Klassen: Drei Ziegenböcke namens Zack, Übersetzung: Thomas Bodmer, NordSüd, 48 Seiten, 18 Euro, ab 5

Viel mehr als Hummus

Jerusalem

Israel als ein kompliziertes Land zu bezeichnen, wie der Titel eines aktuellen Spiegel-Bestsellers lautet, ist zu einfach und fast schon euphemistisch. Hoffnungslos verfahren beschreibt die Situation treffender. Warum das so ist, hat Anja Reumschüssel packend und anschaulich in ihrem ersten Jugendroman Über den Dächern von Jerusalem dargestellt.

Es geht vor allem um Menschen,
junge Menschen

Dabei ist es fast unmöglich, alle Perspektiven der unversöhnlich wirkenden Gegner und die damit verbundene Ansprüche auf den schmalen Streifen karges Land am östlichen Rand des Mittelmeeres wiederzugeben. Reumschüssel gelingt dies jedoch wunderbarerweise, indem sie jeweils zwei junge Menschen in der Gegenwart und zur Zeit der Gründung des Staates Israel nach dem zweiten Weltkrieg aufeinandertreffen lässt und aus ihrer Sicht erzählt. So rückt sie in den Fokus, dass es bei diesem Konflikt vor allem um Menschen geht, junge Menschen, die ein Leben ohne Angst, Krieg und Verfolgung ersehnen, ein Leben in Freiheit, frei von Repressalien, Armut und der permanenten Sorge vor Anschlägen, erschossen oder ins Gefängnis gesteckt zu werden. Es ist ein Jahrtausende zurückreichender Streit, bei dem alle in doppelter Hinsicht beteiligt sind, als Betroffene und als Treffende.

Yerushalayim und Al-Quds

Schon der Titel Über den Dächern von Jerusalem ist klug gewählt, klingt doch bereits hier so vieles an: Der geradezu mythische, religiös aufgeladene Ort Jerusalem, der im Hebräischen Yerushalayim heißt und von den Palästinensern Al-Quds genannt wird. Dieser Ort hat für Juden, Moslems und Christen eine enorme Bedeutung, historisch und identitätsstiftend. Über den Dächern ist die Andeutung einer größeren und damit auch objektiveren, umfassenderen Perspektive, nicht nur auf die Stadt. Hier begegnen sich im Dezember 1947 die 15-Jährige Tessa und der gleichaltrige Mo. Die junge Jüdin hat das KZ überlebt, dort ihren kleinen Bruder und ihre Mutter sterben sehen. Jetzt ist sie auf abenteuerlichen und gefährlichen, weil illegalen Wegen aus einem Lager für Displaced Persons, für entwurzelte Menschen, nach Palästina gekommen, wohin ihr Vater kurz vor der Deportation geflohen ist und die Familie nicht mehr nachholen konnte. Der junge Moslem Mo hat seinen Vater ein Jahr zuvor bei einem Attentat verloren. Seitdem ist er als Ältester für seine Mutter und die drei kleineren Geschwister verantwortlich, musste die Schule abbrechen und schuftet in einer Metzgerei.

Eigentlich waren zwei Staaten geplant

Abends klettert er auf das Dach seines Elternhauses und trifft dort die im Nachbarhaus mit ihrem Vater und vielen weiteren Juden wohnende Therese, genannt Tessa. »Wenn er an Tessa dachte, dachte er an sein Zuhause … an seinen Lieblingsplatz auf dem Dach, wo er sich fühlte, als würde er über den Dingen schweben«, als Mo bereits mit seiner Familie das Haus verlassen hatte und zu Verwandten nach Bethlehem gezogen war. Wenige Monate zuvor, am 29. November 1947 war durch eine UN-Resolution der Weg zum Staat Israel geebnet worden. Die Briten, die das Land nach dem Zerfall des Osmanischen Reiches regierten und von Arabern wie Juden gehasst wurden, zogen sich zurück, die innere Sicherheit war endgültig zerstört. Eigentlich waren damals zwei Staaten geplant: Israel und Palästina. Eigentlich …

Flüchtlingslager, in denen keine Flüchtlinge wohnen

Und damit begegnen die Lesenden in der Gegenwart der jungen Anat, die ihren Wehrdienst in der israelischen Armee leistet. Und dem jungen Palästinenser Karim aus einem Flüchtlingslager im Westjordanland. Dieser Satz enthält bereits zwei Reizwörter, die stellvertretend für die konträren, unvereinbaren Sichtweisen stehen: viele Israelis erkennen die Existenz Palästinas, auch nur die Möglichkeit eines gleichnamigen Nachbarstaates nicht an. Und auch nicht die von Palästinensern. Für die Fundamentalisten sind sie alles Araber und damit gefährliche Gewalttäter und Todfeinde. »Sie sah, wie der Junge um eine Mauerecke verschwand. Der Weg dahinter führte ins Aida-Flüchtlingscamp, das wusste sie. Auch, dass es schon lange kein richtiges Flüchtlingslager mehr war. Die meisten Bewohner waren dort geboren. Höchstens ihre Großeltern waren von irgendwo geflohen, aber das war nun wirklich lange her. Trotzdem wurden sogar die Babys hinter den hohen Betonmauern als Flüchtlinge bezeichnet. Irgendwann musste es aber auch mal gut sein, dachte Anat. Das sagte jedenfalls ihre Mutter immer.«

Religion stiftet Identität und treibt in die Radikalität

Die jungen Menschen, Leute wie Anat und Karim, Tessa und Mo, erleben und müssen sie tagtäglich ertragen – die Folgen dieses uralten Kampfes um ein kleines, geschichtsträchtiges  Stück Land. Religion spielt in allen Erzählungen eine fatale Rolle, sie stiftet Identität, ein Gefühl der Zusammengehörigkeit, des gemeinsamen WIR gegen DIE. Das Erlebte treibt auf beiden Seiten ursprünglich säkulare Menschen in den Fundamentalismus, in die Radikalität und den Extremismus.

Wegen Steinewerfens nach Militärrecht verurteilt

Die politische Journalistin Anja Reumschüssel hat sowohl einige Zeit in Israel, in Tel Aviv, als auch auf der anderen Seite der meterhohen, trennenden Mauer im Westjordanland gelebt. »Für eine Reportage habe ich palästinensische Jugendliche interviewt, die erst kürzlich aus Gefängnissen entlassen worden waren. Palästinensische Kinder und Jugendliche, denen zum Beispiel Steinewerfen vorgeworfen wird, werden nach Militärrecht behandelt«, schreibt Reumschüssel im Nachwort. »Sie erleben häufig Gewalt bei der Verhaftung und während der Haft, sie dürfen ihre Familien nicht sehen, erhalten keinen Schulunterricht und werden zu deutlich längeren Haftstrafen verurteilt als israelische Jugendliche, die für das gleich Vergehen vor ein Zivilgericht kommen.«

Die meisten wollen ein Ende der Gewalt

So wird die nächste Generation geprägt und die Spirale aus Hass und Gewalt immer weiter gedreht. Dass das nicht so sein muss, deutet Reumschüssel in ihrem sehr einfühlsamen und berührenden Roman an. Die meisten jungen Menschen wollen ein Ende der Gewalt. »Ich will kein Land, das auf Toten aufgebaut ist«, lässt sie Tessa ihrem Vater entgegnen, der für Israel terroristische Anschläge auf Moslems verübt. Komprimiert stellt die Autorin noch einmal die Positionen in einem Schlagabtausch zwischen Karim und Anats Mutter dar. Das Ende ist offen, doch versöhnlich und mit einer leisen Hoffnung. Die Israelis und Palästinenser, Juden und Moslems eint doch mehr als eine gemeinsame Vorliebe für Hummus.

Anja Reumschüssel: Über den Dächern von Jerusalem, Carlsen, 2023, 336 Seiten, ab 14, 16 Euro

Eine Welt, in der alle Platz haben

Was macht man, wenn mitten in der Geschichte das Objekt der Betrachtung, die Protagonistin zu dem wird, was sie ja ist, nämlich zur Hauptperson und zum eigenständig handelnden Subjekt – und droht, das Buch zu verlassen?

Giraffe ausschnittsweise

Das passiert der Autorin Haydée Zaydas Ramos in ihrem entzückenden und klug verdrehten Kinderbuch Die Giraffe, die nicht in ihr Buch passte. »Mila war eingequetscht. Sie passte nicht auf die Seiten ihres Buchs. Ihres eigenen Buchs!« Tatsächlich sieht man auf zwei queren Seiten immer nur einen kleinen Ausschnitt des hübschen Tiers, mal ihren langen Hals, mal ihren runden Bauch oder auch nur ihren Schwanz.

Horizontal ist nicht die einzige Perspektive

Viel leichter passt Haydée, genauer ihr jüngeres Ich auf die Seiten, wahlweise an die Giraffe Mila gekuschelt oder sie erforschend. Weshalb ihr Milas Problem, also deren fehlender Platz in der menschlichen Welt, gar nicht bewusst ist.
Aber die Giraffe wehrt sich: Nur weil wir an horizontale Formate, Perspektiven und Erzählungen gewöhnt sind, muss sie sich doch nicht verbiegen. »Ich möchte es vertikal! Schließlich ist das mein Buch«, verlangte Mila. »Vertikal, so wie die Bäume wachsen, die fast die Sonne berühren.«

Ein kluger Dreh

Nach einigem Hin und Her kommt die Autorin ins Grübeln und beginnt die Idee reizvoll zu finden: »Hmmm …« Haydée dachte nach. »Vielleicht ist es sogar ganz lustig, das Buch mittendrin zu drehen.« Und nach einigen Seiten Messen, Rechnen, Umdenken ist der kluge Dreh geschafft. »Mila reckte und steckte sich ausgiebig, also wäre sie gerade aufgewacht. Endlich musst sie den Hals, die Ohren und die Hufe nicht mehr einziehen. Zum ersten Mal zeigte das Buch die Giraffe in ihrer ganzen Pracht.«

Traditionelle Techniken mit digitalen Details

Die in Mexiko-Stadt geborene Illustratorin Yohali Gutiérrez Estrada erweckt Mila aufs Schönste mit braungeflecktem Fell, langen Wimpern und buschiger Mähne in weichem Aquarell. Daneben stellt sie die kleine Autorin als Buntstiftzeichnung. Diese traditionellen Techniken mischt sie mit digitalen Illustrationen zu einer sehr besonderem Bildsprache.

Tierwohl weiter gedacht

Dieses Bilderbuch erzählt davon, wie Geschichten entstehen. Dass man die Protagonisten als Ganzes sehen, sie respektieren und verstehen sollte. Und es fasst perfekt die Philosophie und Entstehungsgeschichte des neuen Verlags CalmeMara zusammen. »Tierisch nachhaltige Bücher aus Bielefeld« sind das Programm. Die ersten Veröffentlichungen stellten Tiere des Begegnungs- und Gnadenhofs Dorf Santana vor. Das Tierwohl gilt auch für die Herstellung der Bücher. Man kann sich nur wundern, wo überall tierische Anteile drin sind, im Leimen, Farben, Laminierungen und Herstellungsprozessen. CalmeMara kann seine Hardcover mittlerweile vegan herstellen, bald sollen auch die Bilderbücher für die Jüngsten, so genannte Pappen, folgen. Der Verlag schafft ein Bewusstsein für das Tierwohl und den Respekt vor allen Lebewesen, durch anregende und bezaubernde Geschichten, wie die von der selbstbewussten Giraffe Mila. Und durch die Produktion der Bücher.

Haydée Zaydas Ramos, Yohali Gutiérrez Estrada (Illustrationen): Die Giraffe, die nicht in ihr Buch passte, Übersetzung: Jennifer Michalski, CalmeMara Verlag, 56 Seiten, ab 4, 18 Euro,

Sowas von da

Nashorn

Eigentlich soll Ludwig schlafen, doch er unterhält sich noch. »Was machst du da, Ludwig? Mit wem hast du gesprochen?«, fragt sein Vater. »Mit einem Nashorn«, antwortet der Junge.

Was wie eine klassische Da-ist-ein-Monster-unter-meinem-Bett-Geschichte beginnt, mit der Kinder versuchen, ein bisschen länger wach bleiben zu können, entwickelt sich zum klugen, philosophischen Spaß. Ludwigs Vater spielt sehr engagiert mit und sucht überall – im Kleiderschrank, unter dem Bett und unter dem Schreibtisch. Aber er sieht kein Nashorn.

»Kannst du das beweisen?«

Und doch ist es eindeutig da, Ludwig kann es sehen. Und kleine und große Bilderbuchbetrachtende auch. Ludwigs Vater argumentiert, dass das Zimmer zu klein sei für ein Nashorn. Er habe überall nachgesehen. »Hier gibt es kein Nashorn«
»Kannst du das beweisen?«, fragt Ludwig daraufhin.
Das kann sein Vater nicht. Denn auch wenn man etwas nicht sieht, kann es doch da sein. Oder nur weil man etwas nicht sieht, heißt es nicht, dass es nicht existiert. So argumentierte nämlich das Vorbild für den plietschen, schlauen Jungen – der Philosoph Ludwig Wittgenstein. Und hat mit diesem Gedankenspiel in Cambridge seinen Professor Bertrand Russel bestimmt auch zum Haareraufen getrieben.  »Es lässt sich schlechterdings nicht beweisen, dass kein Nashorn im Raum ist«, habe Wittgenstein seinem Lehrer erklärt.

Pointierter Dialog, kontrastreiche Illustrationen

Im zweiten Teil dreht das Kind mit dem herausfordernd klugen Blick die Idee noch weiter. Auch wenn der Mond gerade nicht zu sehen ist, so weiß sein Papa doch, dass der Mond da ist, weil er ihn doch schon tausendmal gesehen hat. »Aber beweisen kannst Du es nicht?«, fragt Ludwig.
»Beweisen kann ich es nicht«, muss sein Vater zugeben.
Noemi Schneiders Text, sie nennt es eine philosophische Gute-Nacht-Geschichte besteht ausschließlich aus dem klugen, witzigen und äußerst pointierten Dialog. Dazu hat das Berliner Illustratoren-Duo Golden Cosmos kontrastreiche, vielschichtige und sehr besondere Siebdrucke geschaffen. Doris Freigofas und Daniel Dolz illustrieren mit ihrem charakteristischen Stil für Zeitungen wie die New York Times und Die Zeit oder das Magazin The New Yorker.

Gutmütig spielt das Nashorn seine gewichtige Nebenrolle

Jetzt setzen sie das erste Mal ein Kinderbuch in Szene, und wie: Ludwigs neonrote Haare zeichnen sich vor der nächtlichen Dunkelheit ab und sind wie ein Fixpunkt. Sie bringen wie seine außerordentlich klugen Gedanken und Fragen Licht ins Dunkel. Wittgenstein hat auch mal gesagt, dass Fragen eine Methode sind, zu suchen.
Daneben spielt das freundlich lächelnde Nashorn in Türkis bis Mitternachtsblau changierend gutmütig und großartig seine gewichtige, manchmal sogar tragende Nebenrolle. Einmal hängt der Vater, natürlich von ihm selbst unbemerkt, sein Fernglas am Horn auf. Schon auf dem Vorsatzpapier hat das Rhinozeros neben den wohl geordneten, für jeden sichtbaren und von niemandem angezweifelten Gegenständen eines ganz normalen Zimmers seinen ersten kleinen Auftritt von der Seite her. Zum Schluss ist es gar nicht mehr wegzudenken und wirklich unübersehbar.

Keine Elefanten in Cambridge

Wittgenstein wird bewusst ein Nashorn für sein Gedankenspiel durch die Universität Cambridge geschickt haben und nicht einen anderen Dickhäuter. Im Englischen gibt es die anschauliche Metapher vom Elefant im Raum. Der steht für ein Thema, ein Tabu, von dem jeder weiß, dass es da ist, das sich aber keiner anzusprechen traut. Sprachlich wird hier sehr raffiniert etwas dargestellt, was keiner sehen kann, was aber zweifellos existiert.
Ludwig und das Nashorn ist sprachlich, gedanklich und optisch ein außerordentlich anregendes Bilderbuch.

Noemi Schneider, : Ludwig und das Nashorn, Illustrationen: Golden Cosmos, NordSüd Verlag, 2023, 40 Seiten, ab 4, 18 Euro

Es lebe die Vielfalt, es lebe Babette!

Es ist bunt und der Inhalt ist köstlich – also das perfekte Geschenk zu Ostern! Und es ist eckig, also kein Ei, sondern Tanja Eschs famoser Kindercomic Boris, Babette und lauter Skelette. Lynette (nicht zu verwechseln mit der Babette im Titel, dazu gleich mehr) geht für ein Jahr nach England und bittet Boris, einen Nachbarjungen ihr Haustier zu nehmen – Babette. Wer oder was ist Babette? Das weiß niemand.

Alien können ein Lied von fehlender Gastfreundschaft singen

Ursprünglich als kleines, hamsterartiges Tier in der Tierhandlung erworben, ist sie oder es oder er mittlerweile etwa so groß wie eine Katze, hat vier Beine, läuft aber aufrecht auf den hinteren, futtert gern Flips – und kann sprechen! Genau aus dem Grund muss ihre Existenz unbedingt geheim gehalten werden. »Fernsehen, Zeitungen, Wissenschaftler, alle würden uns die Tür einrennen … und wahrscheinlich würde man sie uns sogar wegnehmen, um irgendwelche kruden Experimente mit ihr zu machen«, malt Lynette sehr anschaulich und realistisch aus, was passieren würde, wenn andere von Babette erfahren würden. Außerirdische können ein frustriertes Lied von fehlender Gastfreundschaft auf der Erde singen – sofern sie es überlebt haben. Man denke nur an den schön schnoddrigen Paul (Ein Alien auf der Flucht) aus gleichnamigem Film.

Babette braucht Gruschel

Boris darf aber kein Haustier haben, sein Vater findet tierische Mitbewohner zu schmutzend und möchte nicht ständig putzen. Also richtet Boris ihr ein gemütliches Versteck unter seinem Hochbett ein. Dort liegt Babette am nächsten Morgen ganz melancholisch und apathisch. Was fehlt ihr? »Babette traurig. Babette braucht Schkelette. Babette braucht Monschter. Babette braucht Gruschel«, erklärt das einzigartige Wesen, mit einem charmant nuscheligem Sprachfehler.

Skelette aus Stöcken geschnitzt

Das Faible fürs Unheimliche hat Babette wahrscheinlich von Lynette, eher ein Gothic Girl. Ein bisschen Halloween-Deko kann Babette absolut nicht aufheitern. Hier kommt Boris‘ Opa Taio ins Spiel, der kann alles schnitzen, also auch ein paar überzeugende Knochen aus Stöcken. Doch als Boris und Babette ein klasse Gruschel-Party feiern, beginnt der wahre Schocker: Mitten im schönsten Tanz der Vampire werden sie von Boris‘ Eltern entdeckt!
Die bekommen erst einen Mordsschrecken, halten Babette für einen eingedrungenen, bissigen, infizierten Waschbären. Sind aber auch nicht wirklich beruhigt, als Boris ihnen den ungebetenen Gast in ihrer Wohnung vorstellt.

Warum macht das Fremde aggressiv?

Das ist der Beginn einer abenteuerlichen Geschichte, in der es auch, aber nicht nur um die Frage von Identität geht. Was ist mit Wesen, die einzigartig und außerordentlich sind und in keine gängige Schublade passen? Das Unbekannte, Fremde macht Menschen Angst. Und sie reagieren darauf aggressiv. Warum?
Boris, sein Vater Yaris und sein Großvater Taio sind schwarz. Das ist aber gar kein Thema in Tanja Eschs Comic. Als Boris von seinem Mitschüler Flo drangsaliert wird, macht der sich über Boris‘ Fahrradhelm lustig. Für die jüngere Generation spielt die Hautfarbe keine Rolle. Das hat Taio noch ganz anders erlebt, als er Ende der 1970er Jahre nach Deutschland gekommen ist: »Ich war überall der einzige Schwarze. Meine Kollegen waren echt nett, da war das nie ein Problem. Aber auf der Straße, im Bus oder im Supermarkt wurde ich ständig angestarrt und beschimpft«, erzählt Taio Babette.

Abstrakten Begriff lebendig gezeichnet

Tanja Esch erzählt in ihrem bunten Comic klug und witzig von Toleranz und Respekt. Und wie schön und bereichernd es sein kann, alle Wesen so zu akzeptieren, wie sie sind und sich auf sie einzulassen. Das ist es, was sich hinter dem abstrakten Begriff Diversität verbirgt. Die Comickünstlerin muss das Schlagwort nicht bemühen, sie zeigt, was es bedeutet und beherzigt die auch für wirklich gute, mitreißende Filme gültige Regel »Show, don’t tell«.
Es lebe die Vielfalt, es lebe Babette.

Tanja Esch: Boris, Babette und lauter Skelette, Kibitz Verlag, 2022, 160 Seiten, ab 8, 20 Euro

Kunterbunte Subkultur

Nicht jedes Abenteuer beginnt mit einem aufregenden Szenario. Und die echten Abenteurerinnen sind nicht unbedingt die, die sich für besonders abenteuerlustig halten. Zum Bespiel im neuen Bilderbuch des belgischen Bilderbuchkünstlers Leo Timmers: Drei Enten dümpeln in einem Tümpel. »Kommt, wir gehen zum See«, schlägt die vierte vor. Also machen sich drei flugs auf den Weg in unbekannte Gewässer, Abwechslung ist das halbe Leben. Nur Erik ist unsicher: »Zum See? Aber man sagt, dort wohnt ein schreckliches Monster!«

Viele fiese Begriffe für zurückhaltende Leute

Ist Erik ein Feigling? Ein Angsthase? Eine Bangbüx? Ein Schisser? Die deutsche Sprache kennt viele fiese Begriffe für zurückhaltende Leute, die auch mal was in der Frage stellen. Dabei sind die wenigsten wirklich mutig, die meisten schwimmen einfach bequem mit der Mehrheit. Erik ist eher skeptisch. Trotzdem geht er mit zum titelgebenden Monstersee. Während die anderen drei stoisch und gleichförmig über die nun etwas größere Oberfläche paddeln, schwimmt Erik hinterher und hält die Augen offen.
Und tatsächlich, unter ihm gleitet ein riesiges Ungeheuer entlang, mit furchteinflößenden Hauern im Maul. Eindeutig ein »MONSTER!«, wie Erik panisch aufschreit. Von den vorausschwimmenden Wasservögeln wird das nur als schlechter Witz abgetan.

Mit Taschenuhr und verrücktem Zylinder

Bei genauerem Hinsehen – und das tut Erik – sieht dieses türkise Ungetüm aber ziemlich entspannt, sogar sehr freundlich aus. Ein bisschen wie das Yellow Submarine als Lebewesen. Nette Accessoires aus Alice im Wunderland baumeln an ihm, die Taschenuhr des hektischen Kaninchens und ein bunter Miniaturzylinder, direkt aus der Manufaktur des verrückten Hutmachers.

Aberwitzige Wesen im Breitbandpanorama

Als eben dieses Monster Erik wortlos einlädt, ihm zu folgen, überwiegt Eriks Neugier seine Angst. Er taucht ab unter die Oberfläche. Dort wird der Abenteurer wider Willen mehr als belohnt für seinen echten Mut. Über ein aufklappbares Breitbandpanorama erstreckt sich gleich über ganze vier Seiten eine fröhliche und kunterbunte Subkultur am Seegrund. Leo Timmers malt eine sehr lustige und kuriose Straßenverkehrsszene, in der sich die aberwitzigsten Wesen in allen Größen und Formen tummeln. Eine Kreuzung in New York wirkt dagegen wie ein lahmer Abklatsch. Erik hat einen Monsterspaß im fantastischen Schwarm.

Echte Abenteuer warten unter der Oberfläche

Bis die anderen drei Enten ihn vermissen. Also taucht Erik wieder auf und beweist, wie cool er wirklich ist: Er behält das wahre Geheimnis des Monstersees für sich. Man muss gar nicht so mutig sein, um ein Abenteurer zu sein. Aber offen und neugierig unter die Oberfläche sehen. Dann entdeckt man die tollsten Welten. Das zeigt Leo Timmers mit wenigen Worten (die von Eva Schweikart übersetzt wurden). Dafür mit umso vielsagenderen Bildern.

Leo Timmers: Monstersee, Übersetzung: Eva Schweikart, aracari Verlag, 2023, 44 Seiten, ab 6, 18 Euro